Interview: Iced Earth

By Tinu
 
Immer auf dem Boden bleiben.



Jon Schaffer, der Bandleader von Iced Earth hat ein bewegtes Leben hinter sich. Das lag nicht nur an immer wiederkehrenden Lineup-Wechseln, sondern auch an seinem Rücken, der ihn einige Zeit ausser Gefecht setzte. Seit dem Einstieg (2011) von Stu Block hat Jon eine sehr stabile Bandkonstellation, die einzig durch den Ausstieg von Troy Seele einen kleinen Dämpfer erhielt. Denken die einen, die anderen wissen, dass seit Jake Dreyer die Truppe nochmals menschlich gewachsen ist und sich Jon, wie auch Stu, kein anderes Line-Up mehr wünschen.

MF: Jon, was ist das Wichtigste in deinem Leben?

Jon (wie aus der Pistole geschossen): Meine Tochter! Sie wird kommenden März dreizehn Jahre jung (grinst zufrieden). Das ist das wahre Leben. Daraus, aus dem Leben, schöpfe ich auch die Inspirationen für meine Lieder und die Texte. Das sind unterschiedliche Dinge, Martin. Ab und zu werde ich inspiriert durchs Lesen oder was ich gesehen habe. Dazu gehören auch persönliche Erfahrungen. Darum denke ich, dass die letzte Scheibe eine der besten ist, die wir je veröffentlichten. Wir haben einige sehr gute Alben raus gebracht. Aber die Letzte ist wirklich ein Highlight geworden. Ich liebe es!

Stu: Sie ist sehr gut geworden, aber zu sagen, dass es die beste Iced Earth ist… Ich war nicht von Beginn weg dabei und somit sang ich nicht auf den älteren Scheiben mit, unter denen es auch extrem gute Veröffentlichungen gab. Sprechen wir aber von allen Tonträgern, die mit mir released wurden, ist «Incorruptible» eine der Sternstunden, auf die ich auch sehr stolz bin.

MF: Gibt es einen Song oder einen Text, der euch besonders am Herzen liegt?

Jon: Wow, das ist eine verdammt schwierige Frage… Über all die Jahre, in denen ich Songs schreibe, gab es einige persönliche Lieder, die mir sehr am Herzen liegen. Darum fällt es mir schwer, da einen einzigen Track hervor zu heben…

Stu: …es gibt so viel Persönliches, da sich auf nur einen Song zu fokussieren, ist unmöglich. Speziell für mich als Sänger, der dann die Emotionen mit einfliessen lässt. Ab und zu sind die Lyrics wie eine Therapie. Als meine Mutter starb, schrieb Jon «End Of Innocence». Das war wirklich wie eine Therapie, als ich den Text dazu komponierte. Unzählige Male haben wir solche Emotionen oder Erfahrungen in unseren Songs einfliessen lassen.

MF: Stu, erinnerst du dich an die erste Probe zusammen mit Iced Earth?

Stu (lächelnd): Oh ja! Es war eine sehr komfortable Situation. Jon kannte meine Stimme und sah mich schon einige Male. So wusste er genau, wie sich mein Gesang anhört. Und! Ich lernte verdammt viel bei Jon. Unglaublich!

Jon: Das war doch damals in Deutschland?

Stu: Ja, wir trafen uns vorher im Studio, aber das war die erste Probe, zusammen mit der ganzen Truppe. Es ist ein massiver Unterschied wenn du im Studio stehst oder mit der Band probst und abliefern musst. Im Studio unterliegst du einer grösseren Kontrolle und kannst Fehler sofort beheben. Bist du im Proberaum oder später auf der Bühne, kannst du nichts löschen oder nochmals einsingen (grinst). Ich musste mein Lehrgeld zahlen (lacht), und es war sehr aufregend mitzubekommen, dass man nicht wie ein Anfänger mit der Schnauze auf dem Boden aufschlägt (lacht). Es ging um den Moment, den entscheidenden Zeitfaktor, in welchem du abliefern musst, ohne Wenn und Aber! Jon hat viel mit mir gesprochen und ich musste viele harte Lektionen lernen. Bei den Proben und den Live-Shows. Aber! Dadurch lernte ich ein viel besserer Sänger und Frontmann zu werden.

MF: Jon, was war für dich der ausschlaggebende Punkt zu wissen, dass Stu der absolut richtige Sänger für Iced Earth ist?

Jon: Du musst einen starken Charakter haben, um als Frontmann bei Iced Earth zu bestehen. Ich kann die Geschichte schreiben, aber er muss sie erzählen (grinst). Weisst du, was ich damit meine? Und er muss die Leute überzeugen, dass sie glauben, was er ihnen erzählt. Stu verfasst auch Texte, da fällt es ihm einfacher zu überzeugen. Das ist ein ganz wichtiger Part. Wenn du als Shouter die Geschichte eines anderen Bandmitglieds glaubwürdig singen musst. Du kannst dich dabei nur in die Emotionen des Schreibers hinein versetzen, aber hast sie nicht so erlebt, wie der Verfasser. Das ist der Unterschied! Wir hatten unglaublich viele talentierte Musiker in der Truppe. Es waren hervorragende Players, aber mit Null Chemie! Es war fantastisch, was und wie sie spielten. Es gab aber auch einige tolle Jungs, mit denen ich mich hervorragend verstand. In der momentanen Konstellation… Alle wissen, dass wir etwas ganz Spezielles haben. Logisch stehen Stu und ich im Zentrum. Wäre dies nicht so, würde vieles sich auch nicht so reibungslos anfühlen. Alle sehen, wie genial und fantastisch diese Zusammenarbeit ist. Vieles wird reflektiert und dadurch wird es zu etwas Tollem! Dadurch haben wir heute diese Brüderschaft. Jake (Gitarrist seit 2016) passt wie der berühmte Deckel auf den Arsch! Es fühlt sich an, als würde er seit Beginn bei Iced Earth spielen. Das hat nichts mit Troy (zwischen 2007 und 2016 dabei) zu tun. Ich liebe ihn, und er ist noch immer einer meiner besten Freunde. Wir sehen uns so oft es geht, denn er lebt zwanzig Minuten von mir entfernt. Er hilft mir bei einigen Sachen, das ist nichts zwischen uns. Aber Troys Leben ging in eine andere Richtung. Jake trat der Band bei und es war unglaublich, wie homogen sich dies anfühlte. Er ist eine jüngere Version von Troy (lautes Lachen).

Stu: Es war von Beginn an, als wäre es nie anders gewesen.

Jon: Ich dachte echt, dass niemand Troy ersetzen könnte, aber Jake vollbringt einen unglaublichen Job! Er ist der perfekte Musiker. Er ist ein Killer und es fühlt sich an, als hätten wir die letzten tausend Jahre mit niemand anderen zusammengespielt. Wir haben amerikanische, kanadische und englische Musiker in der Band, aber wir hängen jeden Abend in diesem Bus zusammen. Wir schauen nicht TV oder starren auf unsere Handys, sondern sprechen über Gott und die Welt und wollen auch jede Mahlzeit zusammen einnehmen. Wir gehen wirklich durch Dick und Dünn und versuchen, uns von diesem ganzen Business-Scheiss nicht runter ziehen zu lassen.

Stu: Wir hatten unterschiedliche Crews. Die Crewmitglieder sahen selten eine Band, in welcher die Mitglieder dermassen viel mit einander sprachen (lacht). Das ist eine sehr seltene Situation. Wir haben diese intellektuellen Miteinandergespräche (grinst), über das Leben, die Musik und alles andere…

Jon: …gut ab und zu labern wir auch nur Scheiss (beide lachen)…

Stu: …würden wir nicht viel lachen, würde einiges fehlen.

MF: Wie schwierig war es für dich Matthew Barlow zu ersetzen?

Stu: Es war für mich kein Ersetzen, sondern das Beitreten in eine bestehende Band. Zudem habe ich immer jemanden ersetzt, das war schon bei Into Eternity so. Ich war immer ein Fan von Matts Gesang. Er ist ein wunderbarer Shouter und eine tolle Persönlichkeit. "Puh, ich hoffe es funktioniert", waren meine ersten Gedanken (lacht). Ich wusste aber, dass es passen wird. Jon und ich verbrachten viel Zeit miteinander. Beim Moment, als ich den ersten Schritt in den Iced Earth-Tourbus tat, als ich aus dem Flieger ausstieg, wusste ich: "Jetzt bin ich da!" Tag für Tag wurde es besser und besser. Viel habe ich auch den Fans zu verdanken, die mich wirklich sehr warm begrüssten. Ich wusste, dass viele Dinge, die Matt sang, für mich eine grosse Herausforderung werden wird. Jon sagte immer, dass ich nur auf meine Stimme vertrauen und dabei die Feinheiten wie den Umfang einsetzen soll. Auch wenn es einige Momente braucht und Jon sagte: "Nein, das klingt noch nicht, aber wir finden den Ton". Und, wir fanden ihm immer! Zu 100%.

Jon: Ich habe mit einigen der besten Sänger auf der Welt zusammengearbeitet. Alle hatten ihren Ton und ihr Charisma…

Stu: …das ist etwas ganz natürliches!

Jon: Du kannst nicht neue Saiten aufziehen, sondern musst mit dem Klang der Stimme arbeiten.

Stu: Es war cool, und ich bin sehr gesegnet, dass ich diese Lieder singen kann und die Fans mögen, wie ich shoute.

Jon: Es ist schön, dass du dermassen mit mir verbunden bist…

Stu: …ja, und alles aus dem Herzen kommt!

Jon: Danke dir (und jetzt passierte etwas, das ich in meiner ganzen Zeit als Journi noch nie erlebte… Jon und Stu klopfen sich gegenseitig auf die Schultern und in ihren Augen zeichnen sich Tränen ab…)

MF (es dauert einen Moment, da ich diesen nicht unterbrechen will): Welches war der erfolgreichste Moment in deinem Leben?

Stu: Ganz klar das Hier und Jetzt!

Jon (sammelt sich wieder): Sprechen wir vom Reichtum an Gefühlen und der Chemie in der Band? Dann ganz klar das Hier und Jetzt! Denn nur dies ist Erfolg! Auch wenn es Truppen gibt, die bedeutend mehr Platten verkaufen. Aber! Sie haben nicht diese tolle Chemie, die für alles entschädigt und dich auch an schlechten Tagen auffängt. Selbst an «Fuck off days», das ist Gold wert (lacht). Es ist eine sehr tolle Zeit, die wir gerade zusammen erleben. Wir haben eine Position erreicht… Die Band war sicher auch vorher schon befreit, aber das ist eine Revolution, die wir durchleben und dadurch selbst im Business mitbestimmen können. Iced Earth wurden zu einer Marke, welche den Test der Zeit überstand. Wie manche Truppe hatte fünf Sänger und konnte trotzdem immer stärker und erfolgreicher werden? Iced Earth konnten es. Das ist wie ein Testament. Aber, das geht nur durch all die tollen Typen, mit denen ich in der Band spiele. Diese Verbindung. Dazu musste ich aber all den Scheiss aus den vergangenen Tagen fressen, um dadurch stärker zu werden. Wir hätten keine Eile, einen neuen Vertrag zu unterschreiben. Wir sind zu einer Marke geworden, für die sich die Firmen interessieren. Ich möchte heute nicht nochmals von vorne beginnen, denn da wo wir heute angelangt sind, das ist verdammt cool (grinst zufrieden).

MF: Wenn du etwas ändern könntest in der Geschichte, was wäre dies?

Jon: Dass ich zehn Jahre älter wäre und trotzdem nochmals achtzehn Jahre jung (lautes Lachen). Aber die Geschichte bleibt eines, nämlich die Vergangenheit, und an der kann man nichts mehr drehen. Schau, ich werde im März fünfzig Jahre alt. Stu ist zehn Jahre jünger als ich, und Jake ist 25 Jahre jung. Er ist um einiges jünger, und es spielt keine Rolle! Wir inspirieren uns, und es spielt keine Rolle, von welchem Land wir stammen. Denn wir akzeptieren und respektieren uns. Aber, Iced Earth hat eine sehr lange Historie. Vieles ist dabei passiert. Dinge, die ich in diesem Moment nicht steuern oder beeinflussen konnte. 1984 startete ich mit Purgatory und es gab nur eines für mich, die Band (lacht). Es war eine heilende Reise, Martin. Unglaublich! Was dabei alles passierte und Iced Earth noch immer da sind, das ist schon sehr erstaunlich. Weisst du, das Geschäft ist voller Parasiten. Du musst immer auf der Hut sein. Es gab viele Dinge in der Vergangenheit, welche andere Truppen vernichtet hätten. Sei ehrlich, denn es spielt keine Rolle, dass du noch mehr Platten verkaufst. Die Popularität hat so viele Bands und Musiker negativ beeinflusst und verändert. Das hat mich nicht betroffen, vielleicht nicht von Beginn weg, aber ganz sicher heute nicht mehr! Ich weiss, dass viele Leute es nicht gut meinten mit Iced Earth. «Fuck it!» Heute bin ich mit den besten Menschen umgeben und es könnte nicht besser laufen! Das ist alles was zählt. Wenn ich mich aber an diese beschissenen Business-Fucker zurück erinnere, welche nur an mir verdienen wollten, mich komplett über den Tisch zogen, mich in eine Richtung drückten, in der ich nicht hin wollte und mich nicht wohl fühlte... Heute bin ich angekommen und vollkommen zufrieden.

MF: Wie wichtig ist Freundschaft in einer Band?

Jon: Das ist nicht immer so einfach und hängt davon ab, wie bodenständig gewisse Leute sind. Verstehst du, was ich meine? Viele verfallen diesem Business-Bullshit und ihr Ego gerät völlig ausser Kontrolle. Die Illusion wird grösser, weil die Öffentlichkeit sie plötzlich abheben lässt. Das liebte ich immer so an Ronnie James Dio, der eine sehr warmherzige und bodenständige Persönlichkeit war. Hansi (Kürsch, Sänger von Blind Guardian) gehört auch dazu. Wir sind seit unserem ersten Treffen beste Freund geblieben. Die Leute küssen deinen Arsch, heben dich in den Himmel und dabei drehst du völlig ab. Du verlierst den Bezug zu dir und deiner wahren Persönlichkeit. In solchen Momenten ist es wichtig, dass du Freunde um dich hast, welche dich von einem solchen Trip runterholen. Alles was du tust, ist Realität, was immer es auch ist. Darum ist es wichtig, dass du den Boden unter den Füssen nie verliest. Dies ist eine sehr grosse Herausforderung in diesem Business. Wenn du mit der Musik beginnst und den ganzen Scheiss glaubst, der dir Tag ein und Tag aus erzählt wird, landest du sehr schnell in den Drogen. Bloss damit du die Dinge kompensieren kannst, welche du eigentlich vermisst. Spiel nie mit dem Anwalt der Lügen (grinst). Davon gibt es in diesem Geschäft genügend, das ist schon fast etwas ganz Natürliches. Viele Musiker von Iced Earth waren sehr talentiert. Ich konnte sie aber nie zu meinen Freunden zählen. Aber es gibt auch viele Leute, die in dieser Band spielten und sie zählen noch heute zu meinen sehr engen Vertrauten. Aber das sind die Wenigsten. Schau dir Wikipedia an, da haben angeblich an die dreissig Leute bei mir gespielt. Aber da stimmt einiges nicht, denn es sind auch viele Studio- und Gastmusiker aufgeführt, die nie mit mir auf Tour waren. Im Hier und Jetzt spielt es keine Rolle, was Wikipedia schreibt, denn mit der jetzigen Konstellation bin ich mehr als zufrieden und glücklich. Nur das zählt. Das ist die Realität (lacht). Heute sind wir eine Familie, in welcher die Freundschaft über allem steht.

Stu: Vergiss nicht, dass Iced Earth noch immer am Leben sind und die Verbindung zwischen uns sehr tief ist.

Jon: Ja, es fühlt sich an, als wären wir auf einem ausgedehnten Urlaub und machen die ganze Zeit nur Party (lacht). Wir geniessen die Musik und unseren Auftritt. Würde es Iced Earth nicht geben, könnte ich nicht in die strahlenden Gesichter sehen. All den Scheiss, den wir über all die Jahre erfahren mussten, ist vergessen.

MF: Wie wichtig ist dann die Balance zwischen Privatleben und Musik?

Jon: Sehr wichtig! Ich kann nicht für andere antworten, aber für mich gibt es nichts Wichtigeres. "A big deal!" Viele Dinge versuche ich auch sehr privat zu halten. Meine Tochter zum Beispiel. Sie gab vor ihren Freunden nie gross damit an, dass ihr Dad in einer Band spielt. Dazu ist sie viel zu intelligent. Sie hat vieles mitbekommen, was um mich herum passierte. Darum weiss sie auch, dass man darüber in der Öffentlichkeit nicht sprechen muss. Sie hat einiges von mir gelernt und weiss, dass es besser ist, dies privat zu halten.

Stu: Vieles in meinem Leben halte ich sehr bedeckt, weil es niemanden etwas angeht. Das ist was Heiliges für mich. Okay, wenn wir einen freien Tag haben und zusammen sprechen würden (lacht)… Aber ich denke nicht, dass ich zu stark ins Detail gehen würde. Durch die sozialen Medien wurde fast alles öffentlich. Viele Musiker stellen ihre Kinder durch diese Medien aufs Netz. Das ist verrückt. Ich bin mir sicher, dass dies später absolut nicht hilfreich für die Kids ist. Ich habe keine Kinder, aber dieses Spektakuläre kann ich absolut nicht nachvollziehen. Für mich halte ich mein Privatleben auch privat! Meine Emotionen zeige ich auf der Bühne und das sollte auch reichen (grinst). Da können die Leute sehen, wie leidenschaftlich wir sind.

Jon: Genau, lass das Tier auf der Bühne raus (alle lachen).

Stu: Korrekt. Denken die Leute, dass ich ein Arschloch bin, ist das völlig okay. Sei es wegen meinen Auftritt, oder wenn sie ein Interview lesen und die Antworten nicht mögen.

MF: Danke für dieses unglaubliche Interview…

Jon: Danke dir, es war mir ein grosses Vergnügen…

Stu: …ja, herzlichen Dank für die Zeit.