Demokratisch und nicht
schubladisierbar, dafür Goldauszeichnung in Japan.
Angra gehören zu jenen Truppen, die seit mehr als 20 Jahren mit
tollen Alben glänzen, sich dabei oftmals selber neu erfinden, mit
muskalischer Qualität überzeugen und dennoch will niemand so recht
von den Jungs Kenntnis nehmen. Gut, Japan war für die Brasilianer
immer ein sehr gutes Pflaster und die Nipponer bewiesen einmal mehr,
dass sie musikalisches Können und Genialität zu würdigen wissen.
Neben den beiden Saitenakrobaten Rafael Bittencourt und Kiko
Loureiro stand immer der Sänger im Mittelpunkt des Fünfers. War es
zuerst André Matos mit seiner fantastischen Stimme, konnte danach
sein Nachfolger Eudardo Falaschi mit einer etwas tieferen Stimmlage
auf der ganzen Linie überzeugen. Nun ist auch Edu weg und sein
Nachfolger Fabio Lione trat zum ersten Mal beim letzten Live-Album
„Angels Cry – 20th Anniversary Tour“ in Erscheinung. Ein Sänger, der
sicher bei Rhapsody Of Fire eine gute Figur abgibt, aber bei den
Angra-Fans eher zwiespältig aufgenommen wurde. Der opernhafte Gesang
will nun mal nicht so zum Metal der Südamerikaner passen… Bleibt
Fabio eine Zwischenlösung? Was wird die Zukunft für Angra bringen?
Wie hat Rafael die letzten zwei Jahrzehnte erlebt? Dies alles
beantwortete der sehr freundliche, bescheidene, Grund ehrliche und
wie immer sehr auskunftsfreudige Gitarrist beim Interview, kurz vor
dem Konzert im Z7.
MF: Rafael, 20 Jahre existiert nun Angra.
Hast du jemals gedacht mit deiner Band so lange musizieren zu
können?
Rafael: So lange? Nein! Das haben wir nie
geplant. Als wir mit Angra starteten waren wir alle noch so jung.
Wir steckten voll mit Plänen, was wir alles erreichen wollten. Das
Ziel war, so berühmt zu werden wie Metallica (lachend). All diese
grossen Pläne schlummerten in uns. Aber dann bemerkten wir sehr
schnell, dass dies nicht so einfach umzusetzen und zu erreichen war.
Dass wir aber so lange im Geschäft sein würden, das war eine
Überraschung für uns. Als wir starteten veränderte sich sehr viel in
der Metal-Szene, viele Trends brachen über diesen Musikstil ein und
selbst die Musikindustrie war nicht mehr das, was sie mal war. Denk
nur, was alles mit den Verkäufen geschah. Als Band verkauftest du
plötzlich nicht mehr so viele Alben oder CDs. MP3, das Internet, die
Möglichkeiten im Studio, alles hatte sich verändert. Darum sind wir
sehr glücklich und stolz, dass wir das alles überlebt haben.
MF: Welches sind die schönsten Erinnerungen?
Rafael: Sehr, sehr, sehr viele schöne Erinnerungen gibt es. Japan
war immer ein sehr guter Ort für uns. Dieser Rummel, der da um uns
gemacht wurde hat uns immer wieder weggeblasen. Wir konnten in Kai
Hansens (Gamma Ray) Studio unser erstes Album produzieren. Ihn zu
treffen, in Hamburg zu sein, dort wo Helloween ihre Karriere
starteten und viele Dinge produzierten, das hat mich stark
inspiriert. Als wir zusammen mit Bruce Dickinson (Iron Maiden)
spielten, die Goldauszeichnung in Japan… Das sind nur einige dieser
vielen schönen Momenten, die wir geniessen und erleben durften.
Wunderschöne Momente, die ich nie vergessen werde. Es gab aber auch
dunklere Seiten in all diesen Jahren. Zum Zeitpunkt, als wir mit
Angra starteten, waren wir alle sehr aufgeregt und hungrig, auf das
was uns ereilen wird. Wir waren jung und unerfahren. So kamen leider
auch einige „bad feelings“ auf. Wenn du als Musiker deinen
Inspirationen folgst und all das Neue aufsaugst, merkst du schnell,
dass da auch viel Neid, leere Versprechungen und Gegenwind vorhanden
sind. Aber das ist das Leben und gehört leider auch dazu. Als
Musiker musst du das auf die Seite schieben und weiter hart an dir
arbeiten.
MF: Gab es dadurch auch Momente, an denen du die Band hinschmeissen
wolltest?
Rafael: Oh ja, da gab es sehr viele
Momente. Es ist ein harter Weg für diese Karriere. Wir lieben was
wir tun. Zudem ist es unsere Profession, aber irgendwann merkst du,
dass du das Ganze nicht für den Profit machst. Das kann manchmal
sehr frustrierend sein. Du steckst alle Hoffnung, dein ganzes
Inneres, deine Seele, dein Herz, Blut, Schweiss und Tränen in die
Sache und bekommst dafür keinen Lohn. Alles was du liebst, was dein
ganzes Leben beinhaltet, beeinflusst dein inneres Seelenleben und
beschleunigt deine ganzen „ups and downs“! Natürlich denkt man immer
wieder daran, einem geregelten Job nachzugehen und alles
hinzuschmeissen. Angra beansprucht viel Zeit und viel Energie und
darum ist das eine harte Wahl sich für die Band zu entscheiden.
MF: Und wieso hast du dann trotzdem nicht alles
hingeschmissen?
Rafael: Weil die Liebe zu dem was
passiert ist, zu dem was ich kreiere, vollbrachte und noch
vollbringen werde… Die Liebe zur Musik, war immer stärker in meinem
Kopf und in meinem Herzen, als die Frustration.
MF: In den letzten 20 Jahren habt ihr gerade mal
sieben Studioscheiben veröffentlicht. Das kommt schon fast einem
Zyklus gleich, wie man ihn von Def Leppard kennt…
Rafael: …ja, das ist wirklich ein guter Vergleich (lachend)…
MF: …was ist der Grund dafür?
Rafael:
Ich denke… Wir waren immer eine sehr kreative Truppe. Dabei sehe ich
uns nicht als Combo, die ein Problem hat, neue Alben zu schreiben.
Frische und neue Elemente sollte dabei aber nie aussen vor stehen.
ABER! Jeder von uns war sehr kreativ und folgte dabei nie einem klar
definierten Fokus. Zuerst starteten wir melodisch, nahmen dann die
Klassik mit und plötzlich noch unsere brasilianischen musikalischen
Wurzeln. Dann wurde es rockiger, dabei vergassen wir was uns
erfolgreich machte, Angra wurde progressiver und heute vermischen
wir alles zusammen (lacht). Schau dir die Truppen aus Schweden an.
Die folgen einem klar strukturierten Konzept, welches sie niemals
auch nur einen Millimeter verlassen oder überschreiten würden.
Angefangen von den Songs, über das Outfit bis zu den Texten. Angra
haben sich dieses Korsett nie angelegt, sondern haben sich immer
wieder aufs Neue inspirieren lassen. Zum Beispiel von den Bands aus
den siebziger Jahren. Die haben gespielt, was sie in diesem Moment
gefühlt haben. Queen, Deep Purple, Genesis, sie haben immer
umgesetzt was sich gerade in ihrem Herzen und im Kopf abspielte. Das
ist das Basiskonzept für Angra. Heute denke ich, dass sich die Fans
mehr einem klaren Markt anlehnen und Truppen, die sich nicht immer
schnell einordnen lassen, nicht die Zeit geben sich bei ihnen zu
entwickeln. Und genau diese Offenheit anderen Dingen gegenüber, dies
in einen neuen Track miteinfliessen zu lassen, das benötigt Zeit.
Viel Zeit (lachend), wenn Angra neue Lieder komponieren!
MF: Wenn wir sehen wie sich Angra immer selber neu erfunden hat,
welches waren für dich die erfolgreichsten Alben von euch. Bezüglich
der Verkäufe, oder auch des künstlerischen Aspekts?
Rafael: Das beste Album für mich ist klar „Temple Of Shadows“. Das
ist unser Meisterwerk. Da haben wir den höchsten Stand des
Songwritings erreicht. Individuell und zusammen. Es war unglaublich
welchen Zusammenhang damals in der Band existierte, welche Ideen
sich entwickelten und wie synchron wir damals zusammenarbeiteten.
Für all die kommenden Jahren wird es sehr schwer sein, dass wir
dieses Werk nochmals übertreffen werden.
MF: Habt ihr Pläne für ein neues Album?
Rafael: Ja! Nach diesem Konzert fliegen wir nach Schweden und
beginnen mit den Pre-Productions zum neuen Werk. Fabio (Lione) wird
auf der neuen Scheibe singen und unser neuer Schlagzeuger Bruno
(Valverde) spielen. Es fühlt sich gut und richtig an mit den beiden
neuen Mitgliedern. Somit ist auch klar, dass Fabio der neue Sänger
von Angra ist. Wir boten ihm einen Vertrag an, den er nicht wollte.
Eine klare Vereinbarung reichte ihm. Fabio wird weiterhin bei
Rhapsody Of Fire singen, aber auch der Shouter von Angra sein. Wir
sind froh, dass er bei uns eingestiegen ist und werden sehen, wie
sich die Zukunft präsentieren wird, wenn Fabio bei beiden Bands
mitmischt.
MF: Wieso hat sich Eduardo (Falaschi) bei euch
ausgeklinkt?
Rafael: Nun, das Problem war seine
Stimme. Wir haben ihm lange Zeit die Möglichkeit gegeben sich zu
schonen. Aber, er nahm diese Chance nicht wahr. Mit der Zeit wurde
dies auch zu einem psychischen Problem. Seine Stimmprobleme schlugen
auf seine Stimmung. Das führte zu einem aggressiveren Verhalten von
Eudardo, und zu Streit mit den anderen Bandmitgliedern. Die
Freundschaft innerhalb von Angra litt stark darunter. Am Ende… Ganz
ehrlich, ich bin noch immer ein guter Freund von Edu, aber es gab
einen Moment, da wurde es sehr schwer ihn in der Combo halten zu
können. Leider litt auch die Qualität, die wir uns auf die Fahne
geschrieben haben und die wir jeden Abend erreichen wollen.
MF: Hast du jemals daran gedacht wieder mit Edus Vorgänger André
Matos zusammenzuarbeiten?
Rafael: Well (lachend)…
Diese Frage wird mir immer wieder gestellt. André hat uns verlassen,
weil er diese für sich so entschied. Das war sein Wille und dadurch
kam in uns eine ablehnende Haltung im gegenüber hoch. Ganz ehrlich,
auch wir haben unseren Stolz. Aber, die Zeit heilt bekanntlich
Wunden. Wir waren bereit wieder mit André zusammenzuarbeiten und
öffneten die Türe für ihn für ein Comeback. Das wollte er nicht und
schlug unser Angebot aus! „He never want it!“ Heute… Wir waren sehr
ablehnend ihm gegenüber, wir hatten unseren Stolz, aber wägten
irgendwann die Möglichkeit ab für seine Rückkehr zu Angra ab. Aber,
er lehnte unser Angebot ab. Aus diesem Grund denke ich, macht es
keinen Sinn mehr, sich über so etwas Gedanken zu machen.
MF: Wenn wir schon bei der Bandkonstellation sind. Wie
wichtig ist die Zusammenarbeit zwischen Kiko und dir?
Rafael: Diese Harmonie zwischen uns beiden ist sehr wichtig. Ich bin
mir aber sicher, dass wir in unterschiedlichen Richtungen operieren.
Für die Ideen, in welche Richtung ein Song gehen soll, bin ich
zuständig. Dabei versuche ich die Ideen der anderen Mitglieder zu
integrieren und zu harmonisieren. Kiko beschliesst dann diese ganzen
Ideen, so dass sie rund klingen. Das ist sehr wichtig in diesem
Songwriting-Prozess. Der gegenseitige Respekt zwischen uns ist sehr
gross. Aber. Es ist absolut möglich, dass Angra auch ohne Kiko und
mir existieren könnte. Viele Leute folgen einem bestimmten Image.
Angra nehmen alles auf, was für ein kommendes Werk passen könnte.
Die Leute konnten sich nicht vorstellen, dass wir jemals mit Fabio
zusammen auftreten und das neue Album einspielen werden. Viele
Wechsel in unseren Line-Up gingen über die Bühne. Wenn du offen
bist, all diese Parts von Angra zu vereinen, das rockige, das
schnelle von „Carry On“, das progressive und die Kultur von
Brasilien mit all den Percussion-Teilen, dann wirst du keinem
genauen Drehbuch folgen. Hast du einen guten Gitarristen, einen
tollen Produzenten, dann sind auch Kiko und ich ersetzbar…
MF: …aber du und Kiko seid die Leitwölfe und die Leader in der
Band…
Rafael: … das stimmt, da hast du recht.
Weisst du, in Brasilien haben wir viele Gitarristen beeinflusst. Die
sehen Angra als grosse, erfolgreiche Band aus Brasilien. Aus diesem
Grund haben sie jede Note von uns gelernt. Sie sind in die gleichen
Schulen und zu den gleichen Lehrern gegangen, wie wir damals. Aus
diesem Grund gibt es heute in Brasilien viele Musiker, die genau das
tun, was wir getan haben. Somit bin ich absolut ersetzbar, denn mit
diesem ganzen Background ist alles möglich! Das gleiche gilt auch
für Kiko!
MF: Wie wichtig ist ein stabiles Line-Up
für euch?
Rafael: Keine Ahnung welche Wichtigkeit
dies für die Fans hat? Oder in wie weit sie Angra nur mit den
Gitarristen und dem Sänger identifizieren? Ricardo Confessori
(Schlagzeug) hat zum zweiten Mal bei uns gespielt, war das wichtig?
Oder vermissten einige Fans Aquiles Priester? Persönlich mag ich
stabile Bandbesetzungen. Wie bei Rush, Metallica, Queen… Da kannst
du dich an einer festen Einheit orientieren. Ab und zu ist es aber
fast unmöglich ein Haufen Musiker unter einem Hut halten zu können
(lachend). Diese ganzen Stresssituationen, die Frustrationen mit dem
Business und die unterschiedliche Entwicklung der Persönlichkeiten
macht das enge Zusammenhalten nicht einfacher. Das hat bei uns immer
dazu geführt, dass wir Wechsel in der Besetzung hatten. Ich erinnere
mich, als Bruce Iron Maiden verliess war ich total angepisst und
habe Blaze nie als den neuen Sänger akzeptiert. Als Steve Perry und
Journey getrennte Wege gingen war ich ebenso angepisst. Es war ein
Schock, da ich ein sehr grosser Fan von Journey und Steve bin, und
hart für mich die neue Situation mit einem anderen Sänger zu
akzeptieren. Aus der Sicht eines Fans, weiss ich wie schwer so etwas
zu verstehen ist. Aber ab und zu führt als Band kein anderer Weg
daran vorbei, interne Entscheide zu treffen, damit du als Truppe
weiterhin existieren kannst.
MF: Du hast zu Beginn
erwähnt, dass ihr so erfolgreich wie Metallica werden wolltet. Wieso
hat dies nie so geklappt? Zumal in meinen Augen eure Songs viel
interessanter sind, als jene von James Hetfield und seiner
Mannschaft.
Rafael: Danke für diese Aussage. Das
ist ein grossartiges Kompliment. Aber! Metallica hat eine Generation
geprägt. Mit ihrer Musik wurden sie mehr und mehr populärer. Sie
starteten als heavy und thrashige Truppe und erreichten damit eine
junge und hungrige Metal-Fangemeinde. Heute kennt Metallica jeder.
Vom Metal-Maniac, über die Putzfrau bis zum Bankangestellten und
Opa, der mit seinem Enkel ans Konzert geht. Metallica besitzen den
gleichen Status wie AC/DC, haben sich musikalisch den Massen
angepasst und es hat funktioniert. Angra war eine sehr bekannte Band
für den Untergrund. Mit all den Stilelementen ist es für die Leute
schwer uns einzuordnen und zu definieren, was wir tun. Jeder Fan
möchte sich sein eigenes Bild über eine Band machen. Angra ist aber
schwer in eine Schublade einzuordnen. Anhand unserer Musik, anhand
unserer Alben, anhand unseres Image und anhand unseres Outfit. Wir
sind keine Gothic-Band. Siehst du das Bild einer Gothic-Band, weisst
du genau, was sie für Musik spielen. Angra ist ein Mysterium. Über
all die Jahre haben wir uns auch optisch verändert. Die einen
kleiden sich thrashig, der andere sieht wie ein Poser aus… Aber wir
sind nun mal eine demokratische Band (lachend). Jeder trägt das
T-Shirt, das er am meisten mag. Das ist für uns ein ganz wichtiger
Punkt, dass wir demokratisch jeden machen lassen, was er will.
Artistisch und musikalisch. Dass uns dabei die Leute schwer
einordnen können ist klar. Vielleicht sollten wir doch irgendwann
einem Trend folgen (lacht).
MF: Rafael, danke für das Interview, das wie immer
sehr ehrlich war und auch ein bisschen hinter die persönliche Welt
blicken liess.
Rafael: Danke dir für den
jahrelangen Support. Danke, dass du uns noch immer nicht vergessen
hast. Auf dich kann man sich verlassen und schön, dass du auch heute
wieder hier bei unserem Konzert bist.
MF: Alles Gute für die Zukunft und auf noch hoffentlich
viele Angra-Jahre.
Rafael: Das wünsche ich dir auch
und wir werden sehen, was uns die Zukunft noch alles bringen wird
(grinst).
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