Ende März sollte ich für eine Woche in meine Heimatstadt Moskau fahren.
Ich besuche diese Stadt immer mit grosser Freude und treffe mich mit
meinen Freunden und Verwandten. Aber diesmal hatte ich das doppelte
Glück, denn ich hatte die Möglichkeit mich mit Musikern aus der in der
Schweiz beheimateteten Gruppe Lacrimosa vor ihrem Auftritt in Moskau zu
treffen.
Ich sagte das Treffen mit Tilo Wolff und Anne Nurmi mit grosser Freude
zu, denn es war sehr interessant für mich, wie die Musiker aus der
Schweiz, in der ich zur Zeit wohne, meine Heimat wahr nehmen. Man muss
unterstreichen, dass diese Band in Russland als Kultband angesehen
wird. Jedes Jahr kommen Lacrimosa nach Russland und nicht bloss für ein
Konzert, sondern sie machen eine Reise durch verschiedene Städte. Die
Band
erntet jedes Mal grossen Erfolg als Gast und es ist fantastisch! Im
Laufe des Gespräches versuchte ich dem Geheimnis der Entstehung des
russischen Phänomens in dieser schweizerischen Band auf den Grund zu
gehen.
MF: Was könnt ihr allgemein über den Musikjournalismus sagen? Ist es für euch
interessant, was die Vertreter der Presse schreiben und veröffentlichen?
Tilo: Es kommt immer drauf an. Es gibt
Journalisten, die halten ganz tolle Fragen bereit und beschäftigen sich
wirklich mit dem Thema. Es gibt aber auch welche, die haben bloss ihre
Standardfragen und dann heisst es üblicherweise nur "wann ist euer
letztes Album heraus gekommen?" oder "wann geht ihr auf Tour?". So ist
es natürlich
langweilig. Aber wenn man wirklich gute Fragen gestellt bekommt, dann
wird es
sehr spannend.
MF: Folgt ihr den musikalischen Trends oder achtet ihr gar nicht
darauf, was um euch herum passiert?
Tilo: Weder noch also. Wir folgen keinen
musikalischen Trends. Wir müssen uns auch gar keine Mühe geben, weil
wir haben unseren Geschmack und wir machen halt das, weil es uns
gefällt. Sicherlich gibt es den einen und anderen Einfluss. Das kommt
natürlich vor, aber es ist überhaupt nicht in unserem Interesse, darauf
Rücksicht zu nehmen, weder zu folgen noch besonders drauf zu achten
dagegen zu sein. Wenn uns etwas gefällt, und das auch gerade im Trend
liegt oder auch nicht, ok, super. Wenn uns der Trend gerade nicht
gefällt,
dann...
MF: ...ändert das nichts?!
Tilo: Ja, das ist so... - wir sind eine Konstante
und
Trends kommen und gehen, und manchmal trifft man sich und manchmal
dann eben nicht.
MF: Eure Musik hat viel Symphonisches an sich. Verrat uns bitte, ob ihr
einen klassischen Lieblingskomponisten habt. Vielleicht Bach oder
Beethoven?
Tilo: Ja, es gibt eigentlich viele. Schwer zu
sagen, wer es sein könnte. Aber ich mag zum Beispiel die Traurigkeit
und die Tiefe des Spätwerkes von Mozart. Ich mag die unglaubliche
Intensität von Bach, den Wahnsinn von Beethoven, die Explosion, die
Emotionalität von Tschaikowski, die Weiten von Sibelius. Also jeder
Komponist hat so was ganz Spezielles, was er so in seiner Musik zum
Ausdruck bringt. Und es ist schön, diese verschiedenen Facetten, die
ich
gerade aufgezeigt habe, dann zu hören, wenn ich mitten in Gedanken
abschweifen und halt weit fliehen will. Dann möchte ich jeweils was von
Sibelius hören. So gibt es zu jeder Stimmung die entsprechende Musik.
MF: Findest du Zeit, Konzert zu besuchen und dir Live-Musik anzuhören?
Tilo: Habe sehr wenig Zeit! Ich würde gerne, aber
es geht nicht immer.
MF: Welche Metal- und Rockgruppen mögt ihr am liebsten?
Anne: Die Klassischen..., natürlich Metallica und
auch andere Stile wie zum Beispiel Muse...
Tilo: Placebo oder Okrays, die älteren Bands: Bonfire, Pink Floyd
natürlich, Supertramp, Genesis (die alten), Marillion. Hmm..., also
sehr
viel handgemachte Musik. Also, was wir beide nicht so mögen, geht in
Richtung
elektronisch, zu downfloworientiert. Es muss schon handgemachte Musik
sein, mit viel Kraft und grosser Ausdrucksstärke.
MF: Eben wart ihr auf der Tournee in Russland. Erzähle doch bitte über
Eindrücke! In welcher Stadt hat es euch diesmal am besten gefallen?
Tilo: Es ist schwer, man kann es nicht so
pauschal sagen, denn jede Stadt ist sehr eigen. In Russland für sich
ist
ja nicht alles gleich. Jede Stadt hat eine eigene Kultur, den eigenen
Lifestyle und es ist sehr schwer zu sagen. Ich bin persönlich Fan von
Moskau, weil es sehr vielseitig ist. Man hat ruhige Ecken, ein schöne
Architektur, aber auch Nightlife und dann diesen Kreml, den roten
Platz, wo alles so majestätisch wirkt und uns deshalb an die
alte Zeit erinnert. Auch das moderne Moskau beweist grosse
Vielseitigkeit,
während in anderen Städte wie Sankt-Petersburg eigentlich vieles
ziemlich
gleich ist. Die beiden Orte sind komplett unterschiedlich. So kann man
nicht
wirklich vergleichend sagen, das ist besser, respektive das ist
schlechter. Ich finde es allgemein ziemlich spannend in Russland zu
touren, weil man
wirklichen jeden Abend andere Menschen vor sich hat, also einen
anderen Kulturkreis so zu sagen.
MF: Ist das Publikum denn von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich?
Tilo: Ja! Zum Beispiel in Moskau, wo die Menschen
wirklich laut sind und nach vorne gehen, hingegen in anderen Städten
wie
Rostow dafür sehr zurückhaltend sind, sehr langsam, sehr gemütlich,
ganz anders als in Moskau. Das ist sehr spannend.
MF: Ein paar Worte zum letzten Album «Revolution». Soviel ich
verstanden habe, wurdet ihr durch die Ereignisse in Russland Anfang des
20. Jahrhunderts zum Schreiben des neuen Albums inspiriert. Oder
vielleicht durch Pianisten wie Rachmaninow?
Tilo: Nein, eigentlich nicht. Das mag ein Zufall
sein. Nee, es ist..., na gut, ich höre natürlich Rachmaninow oder
Klavierkonzerte von Tschaikowski und sie gehen in die selbe Richtung,
die auch meine ist. Sicherlich ist es ein Einfluss, der irgendwann mal
da war, unbewusst.. - Genau, eher unbewusst und der nachher Früchte
getragen
hat und danach wieder weg ist. Aber geschieht nicht bewusst, dass ich
mich dahin gesetzt und gesagt habe "ja ok, jetzt schreiben wir «This
Revolution»
wegen der russischen Revolution und machen daraus etwas Musikalisches.
Dies nicht, weil ich die Revolution nicht ganz politisch sehe, sondern
eher emotional, eher gesellschaftlich. Es ist ein Zufall, aber na ja
manchmal ist es so, dass man gar..., die wichtigsten Dinge glaube ich,
macht man sowieso aus dem Unterbewusstsein heraus.
MF: Durch die Texte?
Tilo: Ja!
MF: Wichtiges Thema! Meiner Meinung nach besitzen die Texte auf
diesem Album einen spürbaren philosophischen Ansatz. Warum ist das so?
Ich zitiere mal eine Zeile aus dem Titelsong: "This revolution is
the evolution». Erkläre mir bitte, was das bedeutet.
Tilo: Na ja, eine Evolution ist etwas, was sich
ständig verändert. Sie ist der Ausgangspunkt, und dann verändert sich
der momentane Zustand. Evolution ist im Prinzip die Veränderung des
Lebens und
es gibt Zwischenphasen, wo man wieder reflektieren kann, hört aber
eigentlich
nie auf. Es wird nie ein Ende der Evolution stattfinden, weil das Leben
ja
immer weiter geht, aber es verändert sich laufend. Leben bedeutet stets
Veränderung. Das heisst also, die Revolution ist der Startpunkt und
dann sollte von dieser eine Evolution aus gehen, ohne aber dogmatisch
zu sein. Es beginnt also etwas zu leben und sich zu verändern. Und wenn
sich nichts verändert, dann findet keine Evolution statt. Ergo ist
diese Revolution eine Veränderung des Lebens und damit eine Evolution.
MF: Ich verstehe den Sinn des Songs «Rote Sinfonie» nicht so ganz.
Kannst du mir das etwas genauer erläutern?
Tilo: Da geht es im Prinzip..., rot ist ja die
Farbe
der Liebe. Und wenn man Musik macht, schreibt man sehr oft, dass man
ganz viel Liebe von sich geben will. Die Liebe ist so ziemlich das
heftigste
Gefühl, das wir erleben können. Und man kann tausend Worte finden, um
sie zu beschreiben, aber da ich visuell denke und rot die Farbe der
Liebe ist, habe ich diesen Titel ausgewählt, um zu sagen, dass es im
Prinzip eine Art Liebes-Sinfonie ist. Rot ist aber auch die Farbe des
Blutes..., rot ist die Liebe, aber auf der anderen Seite gleichzeitig
eine gefährliche, eine brutale und verderbliche Sinfonie. Im Prinzip
vereinigt dieser Titel diese beiden Aspekte.
MF: Ihr interessiert euch ja sehr für Russland. Darum habt ihr wohl die
Single «Krasnodar» aufgenommen. Der Titel steht somit für eine typisch
russische Stadt. Warum interessiert ihr euch besonders für diesen Ort?
Tilo: Einerseits habe ich einen Hang zu Russland
und andererseits habe ich viele Bücher über Russland gelesen.
MF: Welche denn?
Tilo: Hauptsächlich über die Zeit vor, während
und nach Katharina der Grossen. Dann die Frühphase von Peter dem
Grossen
und seiner Tochter, darauf kam eben Katharina und weiter, wie sich
Russland in der Folge entwickelt hat. Knapp bis hin zur Revolution. Ich
bin einfach sehr fasziniert von der Vielseitigkeit des Landes auf der
einer Seite und der Schwermut auf der anderen Seite, von dem was die
Menschen in ihren Herzen tragen. Ich glaube, hiermit erklärt sich die
Verbundenheit zwischen Lacrimosa und Russland, diese Fülle an
Emotionalität.
Und na ja..., klar über Moskau gibt es so viele Lieder, und ich dachte
gerade, wie du gesagt hast, an eine typisch russische Stadt, aber eben
nicht Moskau. Alle reden über Moskau, doch keiner spricht mal über die
anderen Städte. Und so dachte ich, wenn mal über eine Stadt einen Song
mache, dann über eine, an die sonst keiner denkt.
MF: Welche Orte in Russland möchtet ihr noch besuchen?
Tilo: Wir haben schon sehr viele Orte besucht,
mehr als wir zuvor kannten, und das ist genau der Punkt, ich kann dir
keine
Stadt nennen, die ich gern besuchen möchte, weil ich diejenige noch
nicht
kenne und noch nichts darüber weiss. Also wenn, dann muss ich mich echt
davon überraschen lassen und sagen, ok gut, besuchen wir mal eine neue
Stadt,
aber wir haben keine Ahnung, wie es dort ist, ob gut oder schlecht.
Ja..., so lassen wir uns deshalb überraschen.
MF: Es gibt viele interessante Städte in Russland...
Tilo: ...welche ist eigentlich deine
Lieblingsstadt?
MF: Mein Favorit ist Sankt-Petersburg, ich liebe Irkutsk, das ist nicht
weit von China. Welche noch? Jekaterinburg
Tilo: Das ist schön...
MF: ...und auch Nizni Nowgorod.
Tilo: Habe ich noch nie gehört..., wie heisst
übrigens die
Stadt mit dieser riesigen Statue auf dem Berg?
MF: Wolgograd! (ehemals Stalingard)...
Tilo: ...davon habe ich einmal ein Bild
gesehen..., von der Statue da. Diese Stadt ich würde gerne mal besuchen!
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