Steven Wilson als Weltenbummler und parallel dazu
musikalisches Genie hinzustellen, würde noch nicht mal
an der Oberfläche der ganzen Wahrheit kratzen. Der
Überflieger tüftelt nicht nur ständig mit seiner
Hauptband Porcupine Tree an neuen Sound- und
Themenwelten, sondern veröffentlicht regelmässig über
das eigene Label wirre Projekte, die seine Handschrift
tragen (Nicht zuletzt sein eigenes Solo-Album), und
jettet für all die Musik gerne auch mal rund um den
Globus, um die Aufnahmebedingungen zu optimieren. Bei
all dem hin und her qualitativ hervoragende Arbeit
abzuliefern, und dabei noch den Fokus zu waren, sollte
eigentlich schon an den maximalen Kapazitäten eines
Individuums zerren, würde man meinen - Aber Steven
Wilson stellt sich auch diesmal erneut als zusätzlich
überraschend bodenhaftiger Denker heraus, der trotz all
der gewagten Luftsprünge den Sinn für das grosse Ganze
nie aus den Augen verliert.
Der anstehende Gig in der Tägerhard-Halle bei Wettingen
sollte klar davon zeugen, doch die Vorzeichen standen
auf allem anderen als Sturm: Der gute Herr Wilson sass
ruhig Gitarren klimpernd und Fruchtsaft trinkend im
Backstagebereich rum, und beantwortete Handzahm sämliche
Fragen bis ins Detail und darüber hinaus…
Metal Factory (MF): Wie geht's dir?
Steven Wilson (SW): Mir geht's gut, ja - Danke!
MF: Fein. Wann seid ihr hier angekommen?
SW: Wir sind tatsächlich schon gestern eingetroffen. Wir
hatten einen freien Tag, gestern. Da waren wir in…
(Denkt nach) Baden (AG). Wir haben da was Gutes gegessen,
eine ruhige Nacht an der Bar verbracht, und uns einfach
ausgeruht. Es war nett.
MF: Wunderbar. Lass uns zuerst gleich über die neue
Porcupine-Scheibe sprechen, wenn das für dich ok ist.
SW: Sicher.
MF: Ok. Nach was habt ihr diesmal Ausschau gehalten, was
war die grundsätzliche Ausrichtung im Bezug zum
Songwriting?
SW: Aehm… Nun, ich habe mir zuerst ein Ziel gesetzt, und
zwar grundsätzlich eine lange, durchgehende Suite aus
Musik zu kreieren, ein Song-Kreis. Das ist schon
ziemlich anders als sonst, wenn wir uns daran machen,
ein Album zu schreiben - Weil wir da eben normalerweise
mal ein paar Songs schreiben, und dann gucken wie die am
besten zusammen passen. Aber wenn du was schreibst, das
tatsächlich sowas wie eine Kontinuität oder einen Fluss
haben sollte, dann wird das Ganze zu einer richtigen
Aufgabe - Schon allein, weil der Plot effektiv in
Bewegung bleiben, und irgendwan einen Höhepunkt
erreichen muss, und so weiter. Es war irgendwie so, wie
eine Kurzgeschichte zu schreiben. Einfach weil mit dem
ersten Kapitel begonnen wurde, dann einige Charakter und
Themen nacheinander präsentiert wurden, und das ganze
über einen bestimmten Zeitraum dann langsam verwoben
wurde… das ist sehr schwer, ich habe das über die letzen
Jahre schon ein paar mal versucht, und es meistens
wieder sein lassen, weil… (Denkt nach) Aber diesmal hat
es dann, aus welchen Gründen auch immer, einfach
geklappt, und das war eine Herausforderung.
MF: Bei der letzten Platte ('Fear Of A Blank Planet')
hast du zuerst mit der Band gejammt, um danach dieses
gemeinsam erarbeitete Material in Songs umzuwandeln…
SW: …Ja, das habe ich diesmal auch gemacht,
hauptsächlich für die zweite Scheibe. Die besteht
generell eher aus Bruchstücken und Teilen, die nicht ins
Hauptgefüge gepasst haben… Aehm… Auch wenn wir das
Gefühl hatten, dass diese Stücke musikalisch gesehen
genau so stark wie der Rest waren, so passten sie
einfach konzeptuell betrachtet nicht in das Hauptgefüge.
Deswegen gibt es ja schlussendlich auch die zweite
Scheibe. Aber auch im Hauptteil gibt es Momente, die die
Band beim gemeinsamen Improvisieren im Studio geschaffen
hat - Die habe ich dann in das Hauptgefüge
eingearbeitet. 'The Incident' selber war schlussendlich
schon eine ziemlich persönliche Angelegenheit, und ich
hatte davon schon praktisch alles geschrieben, bevor ich
es der Band zeigte, weil ich mir darüber im klaren sein
wollte, dass das Material es wert ist, der Band gezeigt
zu werden. Also habe ich einen Monat lang quasi in
Einzelhaft daran gearbeitet. Und dann sind wir als Band
durch die Ideen gegangen, und dabei haben sich dann neue
Sachen entwickelt.
MF: Ok. Ich würde jetzt mal behaupten, dass dieses Album
eine um einiges weitere Perspektive bietet, als der
Vorgänger 'Fear…', und es gibt auch um einiges
dynamischere Songs.
SW: Ja.
MF: Wie ist es dazu gekomen?
SW: Nun, auf jeden Fall nicht bewusst… überhaut nicht
bewusst. Jedes Mal, wenn wir eine Platte machen, ist es
eine sehr natürliche Erweiterung dessen, was uns in dem
Moment gerade bewegt - Welche Musik wir hören, welche
Musik uns inspiriert. Etwa drei Alben lang war ich sehr
von Metal inspiriert. Diesmal war dies nicht wirklich
der Fall, mich hat der Metal gelangweilt. Ich habe
einfach nichts mehr gehört, dass sich jetzt als speziell
interessant oder inspirierend herausgestellt hat. Also
habe ich nach anderen Einflüssen gesucht, vor allem bei
Quellen, die schon lange da waren. Ich bin mit Classic
Rock aufgewachsen… aber ebenso mit industrieller Musik,
elektronischer Musik, Ambient-Musik… Es gibt auch sowas
wie eine Singer/Songwriter-Sensibilität auf manchen
Stücken… Auch um einiges mehr an akustischen Gitarren,
also jetzt in etwa auf 'Fear Of A Blank Planet'. Wie
vorhin erwähnt, das ist wirklich einfach eine Reaktion
darauf, aus was unser Input besteht, der Output hängt
immer vom Input ab - Und wenn du nicht eine bestimmte
Art Musik hörst, oder es gerade eben tust, dann wird
sich ihr Einfluss ganz natürlich in deinem Schaffen
bemerkbar machen.
MF: Klar. Was waren denn die konkreten Einflüsse an
deiner Stelle?
SW: Ich denke das war einfach grundsätzlich… Nichts
wirklich spezifisches… Es gab beispielsweise eine
Periode in meinem Leben, in der ich sehr darauf
fokusiert war, bestimme Musikstile zu hören, diese
ganzen Genres und Sub-Genres zu entdecken, und mich da
völlig hineinzustürzen, und das hat man dann auch klar
rausgehört. Auf 'In Absentia' habe ich Musik
wiederentdeckt, die ich für lange Zeit irgendwie
verloren hatte, und zwar Metal. Und dann habe ich das
wieder für mich entdeckt, mich da hineingestürzt, mit
anderen Metal-Bands gearbeitet, und das hatte dann
offensichtlich einen grossen Einfluss auf meine Musik.
Diesmal war da aber nichts spezifisches, ich denke es
war einfach ein genereller Blick in meine gesamte
Vergangenheit, meine ganze angesammelte Erfahrung als
Musikhörer - Da steckt immer noch irgendwo Metal drin.
Aber auch langsame Musik. Aehm… Ich denke, das Album hat
eher ein Classic Rock-Touch… Ein grundsätzliches Classic
Rock-Feeling.
MF: Macht jetzt irgendwie Sinn. Wie schwierig war es,
das Thema für die Texte auszuarbeiten?
SW: Nun, nicht wirklich, weil es für mich erst mal am
wichtigsten war, den Fluss der Musik richtig hin zu
kriegen, und das wollte ich nicht auch noch mit dem
Texten machen… Also keine kontinuierliche Geschichte
erzählen - Und so sind die Texte dann auch quer
durcheinander. Es geht um Geschehnisse aus meinem
eigenen Leben, aus meiner Vergangenheit, es geht um
Geschehnisse… die ich aus den Nachrichtensendungen
aufgelesen habe, aus den Medien… Offensichtlich sind sie
über Dinge, die eine Auswirkung auf mich hatten, und
mich dazu gebracht haben, einen Song über sie zu
schreiben. Oder ich habe es einfach der Musik
überlassen, mich zum Text zu führen. Also grösstenteils
haben wir uns darum gekümmert, die Musik zum fliessen zu
bringen - Und erst danach habe ich über Texte
nachgedacht. Ich habe der Musik erlaubt, mir Themen zu
suggerieren. Es gibt dunkle Themen, aber auch sehr… fast
romantisches, sentimentales Material. 'Time Flies' ist
ein sehr nostalgischer, sentimentaler Song über das
Aufwachsen in einem Vorort von London - Und das war's,
nicht mehr… nicht mehr als das.
Ich habe offensichlich ein sehr nostalgisches Verhältnis
zu meiner Kindheit - das ist etwas, was du zu dem
Zeitpunkt gar nicht zu schätzen weisst, du kannst es gar
nicht erwarten, erwachsen zu sein… Und wenn du dann
erwachsen bist, dann schaust du mit diesem typisch
verklärten und romantischem Blick auf die Kindheit
zurück, die damals gewirkt hat, als ob sie ewig dauern
würde… Verstehst du? Und du hast nie mehr die
Gelegenheit, nochmals so naiv und forschend, oder so
unschuldig dem Leben gegenüber zu sein, und das vermisse
ich irgendwie… Und daraus ist dann 'Time Flies'
geworden. Das wurde dann das Zentrum des Albums.
Aber es gab auch eine Menge Glück, gerade wie die Stücke
zusammengekommen sind, und wie es alles zu fliessen
scheint. Aber wie gesagt, musikalisch gesehen haben wir
uns darauf konzentiert, eine Geschichte zu erzählen -
Und die Texte sind dann da aufgetaucht, wo ich das
Gefühl hatte, sie würden passen.
MF: Und wo genau wurde dann entschieden, das Album auf
einzelne Songs runterzuschneiden?
('The Incident' hätte irgendwo im Lauf der Dinge mal ein
durchgehender Track werden sollen, die Red.)
SW: Das wollte ich schon immer tun. Wie Kapitel in einem
Buch.
MF: Aber war das von Anfang an präzise geplant?
SW: Erneut, ich denke nicht, dass das etwas extrem
durchdachtes oder durchmeditiertes war. Während der
Arbeit am Album hatte ich Namen für all diese Teile,
weisst du - Einige davon waren Arbeits-Titel, einige
wurden zu etwas anderem. Es war eher eine
Bequemlichkeits-Frage, weil wir uns daran erinnern
müssen… Wir müssen uns über die einzelnen Teile
unterhalten können, etwa «Lasst uns den 'Time
Flies'-Teil üben!», oder «Lasst uns den 'Octane
Twisted'-Teil üben!». Also beginnst du, die Teile zu
benennen, und das hat mir ziemlich gut gefallen - Diese
Geschichten-Analogie mit Hilfe der Kapitel-Titel
weiterzuführen.
MF: Du hast mir letztes Mal erklärt, dass du auch die
Produktion so nahe wie möglich verfolgst, und deswegen
auch gleich selber mischst und masterst - 'The Incident'
wurde aber nicht von dir gemastert. Wie kommt's?
SW: Das ist eine gute Frage, aehm… Mastern ist eines
dieser Dinge, die ziemlich sicher nicht alle genau
verstehen - Es ist wie eine schwarze Kunst. In etwa…
Wenn du zu einem professionellen Mastering-Engineer
gehst, dann haben die alle diese Kisten, und erzählen
dann «Diese Kiste war 1967 in den Abey Road-Studios!»,
oder etwa «Dieser Kompressor wurde von diesem Typen
benutzt!», und so weiter. Du kannst dann da deine Mixes
durchschicken, und wahrscheinlich weiss der
Mastering-Engineer nicht mal selber, was da genau
passiert… (Lacht). Ich meine, ich habe ja jetzt schon
ein paar Sachen selber gemastert, und das wohl auch ganz
ok. Aber unter'm Strich führt es darauf hinaus, dass
wenn du die Platte richtig aufgenommen, und auch noch
ordentlich gemischt hast, dann musst du beim Mastern
nicht mehr viel machen. Und ich denke, dass das genau
das Problem der meisten Mastering-Engineer da draussen
ist - Sie fühlen sich einfach verpflichtet, zu viel
daran rumzuschrauben…
MF: Ja, genau…
SW: …Die fügen dann Höhen und Bässe hinzu, komprimieren
das ganze, machen es breit und laut… All das kann aber
eine gute Platte zerstören. Und wenn eine Platte richtig
aufgenommen wurde, dann müsstest du eigentlich nix mehr
verändern. Und mit 'Fear Of A Blank Planet', wollte ich
irgendwie… Also der Grund, weswegen ich die Platte
selber gemastert habe, ist, dass wir das zuerst von
jemandem anders haben machen lassen - Und wir haben das
Resultat gehasst. Weil diese Person genau all das
erwähnte gemacht hat: Höhen und Bässe hinzugefügt,
Kompression… Ich will keine Kompression, ich will, dass
die Platte warm und angenehm für die Ohren klingt, nicht
ermüdend.
Also haben wir diesmal was anderes ausprobiert, wir
dachten «Lass uns die Platte drei verschiedenen
Engineers geben!», drei Mastering-Engineers. Und dann
würden wir dann wirklich sehen… Wir haben jeden davon
bezahlt, es war ein Experiment, ein kostspieliges
Experiment, aber wir wollten das wirklich ausprobieren:
Drei Mastering-Engineers, jeder dafür bezahlt, die
Scheibe zu mastern, und dann würden wir sehen, wie stark
der Unterschied ist. Aber die Antwort ist, dass der
Unterschied jetzt nicht so gross war. Aber: Der
Hauptunterschied war klar die Kompression, einige
Engineers haben da mehr gemacht, als andere - In anderen
Worten, es ist eine Lautstärken-Sache. Und… Vor allem
der amerikanische Engineer, den wir damit beauftragten…
da war viel mehr Brickwall-Limiting dabei. Aber wir
wollten nichts davon. Wir sagten, wir wollen nichts,
dass komprimiert klingt - Egal, ob die Scheibe jetzt
weniger laut als die aktuelle Metallica-Platte klingt,
es ist uns egal. Und der englische Typ, Jon Astley, der
hatte wirklich ein nettes Resultat am Start - Er war in
den 70igern ziemlich gross, so ein Old School-Typ. Er
hat das Material durch seine magischen Kisten geschickt,
und es hat ein bisschen süsser geklungen, absolut ohne
Kompression, ohne Brickwall-Limiting, und… deswegen
haben wir sein Master verwendet.
MF: Habt ihr Vorgaben gemacht, oder konnten die
Engineers sich einfach austoben?
SW: Wir sagten einfach «Es ist uns egal, wenn die
Scheibe nicht so laut ist wie die nächstbeste», aber
davon abgesehen einfach «Macht euer Ding, bis es richtig
klingt!».
MF: Ok.
SW. Und… Wie gesagt, die Platte wurde ziemlich gut
aufgenommen, also hätte sie auch gar nicht viel
benötigt. Also wäre jeder, der tonnenweise Equalisation
und Zeugs… also das hat ja eigentlich niemand gemacht!
Das waren alles gute Leute, die uns empfohlen wurden.
Aber wie gesagt, der Hauptunterschied war schon die
Lautstärke, und es ist äusserst interessant, zu sehen…
wie viel Spielraum… weisst du, vier bis fünf Dezibel
Unterschied zwischen zwei Master… Unsere Musik ist nicht
niederwalzend. Sie hat eine Menge Dynamik, also hätte
man das auch gar nicht plätten müssen - Wenn du das
gemacht hättest, hätte alles viel schlimmer geklungen.
Du willst ja nicht die leisen Stellen so laut wie die
lautesten Stellen, darum geht's ja in unserer Musik… Von
Ambient zu Death Metal zu Pop, die Leute tendieren
einfach dazu, alles glatt zu bügeln, davon könntest du
die ganze Zeit schreien…
MF: War das ein Problem für das Plattenlabel?
(Roadrunner Records sind bekannt für eher plattgedrückte
Musik, die Red.)
SW: Nein, überhaupt nicht. Die haben uns komplett
vertraut. Es war einfach ein Problem wegen der
vergangenen Erfahrung - Wie gesagt, der erste
Mastering-Engineer von 'Fear Of A Blank Planet' hat all
das gemacht… und darüber bin ich froh. Weil ich deswegen
die Sache selber in die Hand genommen habe, wir hatten
da kein Geld mehr. Ich bin so froh, dass wir nicht das
erste Master haben rausgehen lassen…
MF: In Anbetracht deines kompletten Katalogs an Platten,
bei denen du mitgearbeitet hast - Gibt es einen Punkt,
an dem du dich hinsetzen, und die Dinger einfach als
Musikfan anhören kannst?
SW: Die Platten, die ich gemacht habe? Nein, nie.
Niemals. Es ist zu schmerzhaft.
MF: Hörst du immer noch Fehler, oder Sachen, die du
hättest besser machen können?
SW: Genau. Du hörst all die Sachen, die die anderen
Leute gar nicht hören, Sachen, die nur dich anspringen -
Wie eine Hi-Hat mit zu viel Höhen, oder ein komisch
gesungenes Wort, oder du denkst «Wir hätten das besser
singen sollen!» oder «Diese Gitarre hat zu viel Bass!»,
all dieser Scheiss.
Vielleicht werde ich das eines Tages können, die Musik
ohne all das anzuhören, aber… Ich bin immer noch… Auch
die Alben, die ich vor zehn, fünfzehn Jahren gemacht
habe, ich bin da immer noch zu nahe dran, um sie mir
anzuhören. Ich finde sie immer noch ziemlich
schmerzhaft. Wirklich, der letzte Moment, in dem ich mir
die Sachen anhöre, ist beim Mastern.
MF: Du hast ja auch einige Platten in 5.1 neu gemischt
und/oder neu gemastert - Wie schwer war das?
SW: Neu Mischen war einfach, weil du dabei eine Menge
davon reparieren kannst. Aber neu mastern… du musst da
einfach alles noch mal anhören, etwas EQ hinzufügen,
oder was auch immer… Das ist schon ziemlich schmerzhaft,
ja.
MF: Und die Versuchung, davon etwas neu einzuspielen?
SW: Nun, um ehrlich zu sein, ich habe ja nur zwei Alben
neu gemischt, 'Stupid Dream' und 'Lightbulb Sun', das
habe ich in einer Retrospektive gemacht. Wenn ich weiter
zurückgehe… Ich habe beispielsweise 'Up The Downstair'
nicht neu gemischt, sondern gleich komplett überarbeitet
- Weil ich die Drum-Maschinen mit echten Drums ersetzen
wollte. Das habe ich vor fünf, sechs Jahen getan… Die
Versuchung ist schon da, wenn man schon mal hinter den
Reglern sitzt, weisst du? Einige Sachen, die ich damals
aufgenommen habe, sind schon ziemlich primitiv - Ich
hatte kein Budget für Equipment, also konnte ich auch
kaum einen guten Sound rausholen… Die akustischen
Gitarren klingen dünn und hässlich… Also war die
Versuchung schon da, mal eben zu sagen «Ah, das dauert
nur fünf Minuten, diesen Gitarren-Teil neu aufzunehmen»,
aber tatsächlich habe ich es nicht gemacht. Ich dachte
«Das geht einfach zu weit».
Sowas ist extremst verlockend, gleich neu aufzunehmen -
Aber darum geht es einfach nicht. Der Punkt ist, dass
bestimmte Arbeit genau wegen den Verfänglichkeiten das
ist, was sie ist. Und wenn du dann beginnst, da
aufzuräumen, dann verlierst du eventuell genau, was
ursprünglich daran so charmant war, du verlierst, was
die Leute vielleicht genau gemocht haben, was einfach
Teil davon ist.
MF: Was ist der Unterschied, wenn du für Porcuine Tree
oder für dich selber schreibst?
SW: Nun, das ist einfach. Wenn ich für Porcupine Tree
schreibe, dann weiss ich, dass ich für vier Leute
schreibe, und ich weiss genau, was diese vier Leute
verbindet, und was ihnen Spass macht, zu spielen. Wenn
du dir die vier Leute in Porcupine Tree als vier Kreise
vorstellst, dann gibt's einen Teil, wo sich die vier
Kreise schneiden - Der ist ziemlich klein -, da
verstehen wir uns, das ist unsere Musik. Ich würde nie
verlangen… Auch wenn ich den grössten Teil der Musik
schreibe, würde ich nie verlangen, dass sie etwas
spielen, was sie nicht mögen, oder verstehen, oder
geniessen können. Als ich für meine Solo-Scheibe
schrieb, konnte ich all das machen, weil ich das nie
einer Band zeigen musste. Ich habe beispielsweise viel
extremen Lärm auf dieser Platte verwendet, Drones,
Soundwände, und das verstehen nicht alle Musiker, die
Verwendung von Lärm in der Musik - Manchmal ist es für
sie einfach nur Lärm. Das andere, was ich auf meiner
Soloplatte verwirklichen konnte, ist, die Gitarre zu
verwenden, um Flächen und Sounds zu erzeugen, die bei
uns normalerweise von den Keyboards übernommen werden
würden. Bei Porcupine Tree sind viele dieser Flächen
Richard (Barbieri, Keys/Synths - die Red.), aber auf
meiner Solo-Scheibe gibt's kaum was davon, ich habe dazu
Gitarren verwendet, so ein Shoegaze-Ansatz der Gitarre.
Also das war auch für mich unterschiedlich.
Was die Texte angeht, da habe ich versucht, weder
fliessend noch klar zu sein, es sollte nichts bedeuten.
Bei Porcupine scheint es immer so, als ob alles eine
Bedeutung hätte, und das versuche ich auch so
umzusetzen, damit die Leute die Themen erforschen
können, die Texte erforschen können. Auf meiner
Solo-Platte sollten die Texte und der Gesang einfach
Teil der Flächen, der Musik sein - Ich wollte nicht,
dass die Leute da zu viel analysieren. Deswegen sind im
Booklet auch keine Texte abgedruckt. Ich wollte nicht,
dass die Leute die lesen und analysieren.
Das sind so zwei oder drei grundsätzliche Unterschiede.
Und natürlich sagen die Leute «Das hätte auch klar auf
einer Porcupine Tree-Scheibe sein können!»… Natürlich,
ich kann mich ja nicht verstellen, meine Persönlichkeit
kommt da immer noch durch, egal was ich mache! Aber da
gibt's eben auch einige Aspekte auf dieser Platte, die
Porcupine Tree nicht spielen würden.
MF: Für die Solo-Scheibe bist du rund um die Erde
gereist, und hast unter anderem in Mexiko, Japan und
Israel aufgenommen - Wie kam's dazu?
SW: Das ist ebenfalls etwas spezielles an der
Solo-Scheibe – das ist etwas, das ich nie mit einer Band
machen konnte, das wäre einfach zu kompliziert. Zu sagen
«Hey Leute, lasst uns diese Woche nach Mexiko gehen, um
dort aufzunehmen!», oder etwa «Lasst uns nach Israel
gehen!»… Aber bei der Solo-Scheibe – Weil's da wirklich
nur ich und ein Filme-Macher waren, der die ganze Zeit
dabei war - Wir waren da völlig frei, konnten uns
während dem Prozess entscheiden… Und wir überlegten halt
«Wo wäre es toll, um aufnehmen zu gehen, wo könnte man
gut filmen?», und dann eben «Hey, lass uns nach Mexiko
gehen!», und das haben wir dann gemacht. Sobald wir da
ankamen, haben wir ein paar Leute getroffen, die wir vor
Ort kannten, wir haben Musiker gefunden, wir haben
Studios gefunden, wir fanden… Eine der besten Locations
an der wir aufgenommen haben, war in Mexiko City: Eine
alte, verlassene Gruft. Da konnten wir quasi mitten in
der Nacht hingehen – Das war ein grusliger Ort. Die
Geister all der Leute, die da durchgegangen sind, waren
die ganze Zeit bei uns. Und… Einfach ein inspirierender
Ort. Und ich bin da wirklich einfach reingegangen, hatte
nix zum aufzunehmen, und… Es war ein Piano dort, also
habe ich mich da hingesessen, an Ort und Stelle was
geschrieben, und wir haben es direkt auf einen Laptop
aufgenommen, das ganze gefilmt, und das wurde dann der
Titelsong von «Insurgentes». Also gab's definitiv Fälle,
bei denen die Location explizit Einfluss auf den
kreativen Prozess hatte. Das kannst du mit einer
kompletten Band einfach nicht machen, weisst du? Da
gibt's immer Material zum rumschleppen, und Leute, die
dann meinen «Ich sollte diese Woche noch zum Zahnarzt!»,
oder etwa «Ich habe meiner Frau versprochen, ich würde
sie abholen!». All das, weisst du. Da kannst du nicht
einfach so sagen «Hey Jungs, lasst uns heute nach
Brasilien gehen!», das kannst du solo machen.
MF: Wie viel des Solo-Materials war tatsächlich schon
fertig, bevor ihr euch aufgemacht habt, herum zu reisen
und zu recorden? Oder wurde der grösste Teil wirklich
dann vor Ort entwickelt?
SW: Mehr oder weniger. Ich habe ein paar Sachen
geschrieben… Als ich begonnen habe, an der Solo-Scheibe
zu arbeiten, bin ich in mein Studio gegangen, um mit
Ideen rumzubasteln - Um zu gucken, ob was da ist. Und
ich habe… gut drei, vier Songs geschrieben, um dann zu
realisieren «Ok, ich hab' hier was, etwas spezielles,
ich glaub' das würde auf die Platte gehören, aber da
kommt noch mehr». An diesem Punkt habe ich den
Filme-Macher angerufen, und gesagt «Hör' mal, ich mache
eine Solo-Scheibe, und… Ich möchte, dass du den ganzen
Prozess filmst, und hey: Lass' uns einen Road-Trip
machen!». Ich habe den Prozess gestartet… ich habe
nicht… ich habe nicht… ich habe es gemacht, weil ich
Vertrauen darin hatte, dass da noch genug kommen würde.
Ich meine, es gäbe nichts schlimmeres, als auf den
Road-Trip zu gehen, und dann zu denken «So, und was tu'
ich jetzt?». Aber ich wusste, dass da genug vorhanden
war, ich hatte eine starke Vision für die Platte – so
viel, dass ich genug Vertrauen hatte, dass ich losgehen,
und das tun könnte.
MF: Diese ursprünglichen Songs, haben die es auf die
Platte geschafft?
SW: Ja! Aehm… Der erste, den ich geschrieben habe, war
'Get All You Deserve', und der zweite war 'Harmony
Korine', und der dritte dann 'Salvaging'. Und… an diesem
Punkt war ich wirklich sehr aufgeregt über diese drei
Stücke - Und der Rest wuchs dann aus dem Road-Trip
heraus.
MF: Interessant, dass es gerade diese Songs sind - Die
scheinen mir am stärksten mit Porcupine Tree verbunden
zu sein.
SW: Richtig! Möglicherweise! Ich denke 'Salvaing' ist
ziemlich unterschiedlich, die Struktur ist sehr
unterschiedlich. Es startet mit diesem donnernden Ruf,
geht dann in diese wunderschöne Orchester-Sektion, und
endet mit einer Wand an Lärm - Und das war für mich
schon sehr kinomässig. So etwa wie eine Kino-Suite. Was
ich jetzt nicht unbedingt mit Porcupine Tree assoziieren
würde. Aber du hast wahrscheinlich recht, du hast
wahrscheinlich recht. Diese Songs wurden ja im gleichen
Umfeld wie die Porcupine Tree-Songs geschrieben - Es
gibt da wahrscheinlich schon einige Zusammenhänge.
MF: Du hast um den Album-Release herum öffentlich ein
paar Wege getestet, wie man iPods am besten zerstören
kann - Quasi als Metapher, um die schlechte Qualität der
Musikkompression an den Pranger zu stellen, der sich die
Leute heutzutags hingeben. Was sind deine
grundsätzlichen Gedanken zu diesem Thema? Gibt es noch
Hoffnung, oder sind die Leute einfach bescheuert, oder…
SW: Nein! Das ist überhaupt keine Dummheit… Erstens
denke ich, war es es wert, das auf den Punkt, und die
Leute wenigstens zur Diskussion gebracht zu haben. Und
wir haben das ja gefilmt, die Idee war, das ganze in
einer lustigen, unterhaltenden Art und Weise
rüberzubringen… «Haha, der durchgeknallte Mucker
zerstört iPods!» – Immerhin das Thema zur Diskussion
gebracht zu haben. Die Sache ist doch die: Die Leute
realisieren das gar nicht… vor allem Kinder, die in den
letzten fünfzehn Jahren geboren wurden, die jetzt
vielleicht Teens sind, die sind nie wirklich mit etwas
anderem aufgewachsen. Die konnten schon immer Musik
runterladen, die konnten schon immer ihre Musik auf
ihren iPods anhören… Und die sind sich einfach nicht
darüber bewusst… was für Scheisse sie sich da anhören.
MP3 sind einfach extremst schlimm komprimierte Versionen
von etwas, das ursprünglich mal Kunst war. Du würdest ja
auch nicht ein grossartiges Gemälde nehmen, es in ein
JPG umwandeln… und dann erwarten, dass die Leute dieses
JPG angucken. Du willst, dass die Leute zum Bild
hingehen, die Reflektionen des Lichts an der Oberfläche,
den Farben, und der Farbtextur bestaunen. So stellt man
ein grosses Meisterwerk zur Schau. Und ich glaube, mit
der Musik ist es das selbe… MP3 sind wie die JPGs… Man
kann's immernoch bestaunen, wenn's denn ein wirklich
gutes Gemälde, oder eben ein wirklich gutes Stück Musik
ist…
Aber es geht nicht um Dummheit, es geht um Bequemheit.
Und ich denke, die menschliche Rasse hängt von der Natur
her einfach daran, die bequeme Erfahrung der
qualitativen vorzuziehen. Man erkennt da auch
wiederholende Muster in der Geschichte. Und der iPod ist
einfach das letzte Beispiel, wie Bequemlichkeit immer
gewinnen wird. Ich würde gerne denken, dass Leute die
Ipods benutzen, wenn sie unterwegs sind, im Flugzeug…
Aber ich denke, die Realität ist, dass viele Leute nur
noch auf iPods Musik hören, und die legen zu Hause nie
eine CD auf, oder hören sich nie einen schönen Surround
Sound-Mix auf einem richtig installieren (Grinst) System
an. Ich befürchte, dass das der Fall ist.
Und gerade weil der iPod so bequem ist, ist es genau so
einfach, die Sache per USB - oder was auch immer -
anzuschliessen, und diese hässlich komprimierten
Versionen von Musik anzuhören. Und das ist es für mich
zumindest wert, diskutiert zu werden. Und das haben wir
halt eben die letzten Jahre gemacht. Ich denke, ich habe
das Thema zur Diskussion gebracht, darüber in Interviews
gesprochen… Und wenn auch nur ein Kind mit dem Gedanken
«Weisst du was? Ich habe darüber gar noch nie so
nachgedacht, vielleicht sollte ich einen Plattenspieler,
oder eine CD kaufen, und die richtig hören!» davon
läuft, dann hat es sich gelohnt.
MF: Ok, cool… gibt es sonst noch was, was du an die
Leser von Metalfactory.ch loswerden möchtest?
SW: Oh Gott, ich weiss nicht… wir haben doch schon eine
ganze Menge, nicht wahr?
MF: Ich würd's meinen!
SW: Gut!
MF: Cool, danke sehr - Dann war's das!
SW: My pleasure, geniess die Show.
MF: Das werde ich, man sieht sich!
SW: Nett wieder mit dir geplaudert zu haben, bye!
Steven Wilson mit unserem El Muerte >>>
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