«Bei dir hab ich die Qual der Wahl, Stacheldraht im
Harnkanal» und «Wünsch dir was, ich sag nicht nein und
führ dir Nagetiere ein» - Rammstein kratzen auch nach 15
Jahren im Business immer noch an den Grenzen des guten
Geschmacks und schafften es damit prompt, dass ihre neue
Scheibe «Liebe Ist Für Alle» in Deutschland auf den
Index gesetzt wurde. Seit ihrem Debüt «Herzeleid» von
1995 sorgten Rammstein immer wieder für Skandale und
Medienwirbel. Vorwürfe, sie würden mit ihrem Auftreten
den Nationalsozialismus kritiklos ästhetisieren,
Anschuldigungen von Gewaltverherrlichung oder eben auch
Verrohung der Sitten, die Geschichte Rammsteins ist und
war auch immer eine Geschichte der Skandale.
Gleichzeitig oder vielleicht auch mitunter deswegen ist
die Geschichte der Band auch eine Erfolgsgeschichte. Mit
«Liebe Ist Für Alle Da» in 8 Ländern auf Platz 1 der
Charts und das nicht nur in Deutschland, Österreich und
der Schweiz, sondern auch in Mexiko, Finnland oder der
Tschechischen Republik. Sogar im ansonsten so prüden und
von Mainstream beherr-schten Amerika schaffte man es auf
einen erstaunlichen 13. Rang. Dazu praktisch immer
ausverkaufte und bejubelte Konzertreisen rund um den
Globus und eine treue, frene-tisch abfeiernde Fanschar.
Wie es ist, vor einem solchen Publikum auf der Bühne zu
stehen, was von der Indizierung des neuen Albums in
Deutschland zu halten ist und «Liebe Ist Für Alle Da»
ansonsten verstanden werden kann, darüber sprach Metal
Factory nur eineinhalb Stunden vor ihrem ausverkauften
Gastspiel in der Basler St.Jakobshalle mit Keyboarder
Christian „Flake“ Lorenz (CL). Dass der drahtige
Tastenmann mit der prägnanten Hornbrille, wie auch der
Rest der Band, dabei alles andere als verroht und
wahnsinnig ist, zeigen die differenzierten und klugen
Antworten.
MF: Hallo Flake! Zuerst muss ich dir gleichmal danken,
dass du dir für uns Zeit nimmst. Es ist echt eine Ehre,
mit dir quatschen zu dürfen.
CL: Kein Problem!
MF: Nach über drei Jahren seid ihr nun zum ersten Mal
wieder auf Tour. Wie fühlt sich das nach so langer Zeit
an?
CL: Es ist so, als hätten wir nie Pause gemacht. Gleich
beim ersten Konzert kam all das, was dazugehört sofort
wieder hoch. Und bei uns ist das Schöne, durch diese
Pyroeffekte benutzen wir diese Feuer-Chemikalien und
wenn man die dann riecht, dann erlebt man einen
pawlow'schen Reflex (durch einen bestimmten Reflex
hervorgerufenes Verhalten - Anm.d.Verf.), dass man
sofort wieder zur Maschine wird und die richtige
Stimmung kommt. Es riecht wieder so typisch und man hat
das Gefühl, man hätte die letzten Jahre nichts anderes
getan.
MF: Bis Mitte März werdet ihr in ganz Europa gut 60
Konzerte spielen. Wie bewältigt man eine solche
Belastung?
CL: Das merken wir immer erst während der Tour. Sowas
kann man vorher nicht planen oder vorbereiten. Wir
versuchen irgendwie einen entspannten Tag zu verbringen,
indem wir viel spazieren und mehr oder weniger gesund
leben. Ob wir das wirklich durchhalten, dass wissen wir
gar noch nicht, hahaha...
MF: Seit drei Wochen ist eure neue Scheibe «Liebe Ist
Für Alle Da» käuflich zu erwerben und schon jetzt brecht
ihr alle eure bisherigen Rekorde. In 7 Ländern auf Platz
1, in unzähligen anderen Ländern in den Top 10 oder Top
20 und das nicht nur im deutschsprachigen Raum. Wie
erklärst du dir, dass euer Erfolg auch nach drei Jahren
Sendepause immer noch ungebrochen ist?
CL: Wir geben uns mit den Platten wirklich Mühe. Wir
arbeiten nicht umsonst drei Jahre lang an einem neuen
Album, sondern wir filtern die Ideen lange und
entwickeln sie immer weiter, machen immer wieder neue
Versionen und bearbeiten die wieder, verändern,
verbessern, bis wir merken, dass es wirklich gut ist.
Wir achten auch darauf, dass wir nichts Künstliches
machen, dass wir genau das tun, was wir wirklich wollen.
Dass wir nicht in irgend eine Richtung für das Publikum
arbeiten, wo wir einfach sicher sein können, dass es
gefällt, sondern dass wir das machen, was wir fühlen.
Und genau das merken die Fans und deswegen kaufen sie
unsere Sachen. Sie merken, dass das, was sie kaufen,
wirklich echt ist. Und dieses „echt“ ist wichtig, damit
die Fans nicht denken, wir machen jetzt schnell eine
Platte, weil wir Geld brauchen. Wir machen nicht einfach
schnell zwei, drei Hits und der Rest ist Gülle oder so,
sondern bei uns merkt man, dass in jedem einzelnen Titel
unser Herzblut steckt. Wenn man das ernsthaft macht,
dann funktioniert es auch nach meiner Meinung.
MF: Deswegen auch die drei Jahre Pause?
CL: Drei Jahre Pause ist falsch. Wirklich Pause hatten
wir nur ein Jahr und auch haben wir uns natürlich
trotzdem immer wieder getroffen. Wir hatten da ja nicht
Besuchsverbot oder so. Viel Arbeit in einer Band besteht
ja auch darin, dass man miteinander spricht, über
Vorstellungen und Ideen. Es war nur so, dass wir ein
Jahr lang nicht geübt haben im Proberaum. Kontakt hatten
wir aber natürlich immer miteinander.
MF: «Liebe Ist Für Alle Da» ist die erste Scheibe,
welche ihr in den USA aufgenommen habt nach Aufnahmen in
Deutschland oder anderen, europäischen Ländern. Was waren
die Gründe dafür, so weit weg zu fahren und wir war's?
CL: Wir wollten wirklich ganz weit weg von allen
Einflüssen, damit wir überhaupt nicht mit dem Alltag
konfrontiert werden und uns voll und ganz auf die Platte
konzentrieren konnten. So weit weg, dass es wegen der
Zeitverschiebung sogar schwierig ist, mit Zuhause zu
telefonieren. Das hat auch wirklich funktioniert. Leider
war das Studio und die Umgebung wirklich so schlimm, wie
wir das nie erwartet hätten und auch sehr
deprimierend...
MF: Weswegen denn?
CL: Es war wie so ein Vorort von Basel, einfach aus
Pappe gebaut, wo Rentner wohnen. Das hatte nichts mit
Rock'n'Roll, Musik oder Inspiration zu tun sondern war
einfach nur traurig und ekelhaft.
MF: Wie würdest du «Liebe Ist Für Alle Da» in eures
bisheriges Schaffen einordnen?
CL: Ich denke die Grundideen waren rammstein-fremder, da
wir offner waren und mehr Mut hatten irgendwas
auszuprobieren, ohne zu wissen, wie die Platte wird. Wir
hatten kein Ziel, keinen Weg, sondern wussten nur: Wir
wollen zusammen neue Musik machen. Es gab kein
Grundkonzept, keine Linie. Einfach jede Idee war erlaubt
und als uns dann verschiedene davon gefallen haben,
haben wir diese langsam versucht in das
Rammstein-Korsett zu zwängen und deswegen ist die Platte
in meinen Augen sehr mutig und auch sehr offen. Wir
haben nicht versucht einfach dem Erfolgsrezept zu folgen
und einfach Songs zu machen, die wir von der Art her
schon hatten sondern sind aus völlig anderen Richtungen,
auch musikalisch, an die Sache herangegangen. Das hört
man vielleicht nicht, wenn man nur nebenbei die neue und
dann eine alte Platte anhört, aber wenn man sich damit
beschäftigt, dann merkt man, dass es hier wirklich
grosse Unterschiede gibt.
MF: Du hast eure Methode angesprochen, Songs immer und
wieder zu überarbeiten. Mit dem Bonustrack «Liese» auf
eurer neuen Scheibe bekommt man einen Einblick, was das
heissen kann, denn der Song hat ja die selbe Melodie wie
der reguläre Track «Roter Sand», vermittelt mit einem
anderen Text aber eine komplett andere Stimmung. Warum
habt ihr euch zum Beispiel für «Roter Sand» entschieden
und nicht für «Liese», welches mir ehrlich gesagt besser
gefällt?
CL: Eigentlich ist es so, dass wir von jedem Lied
mehrere Versionen haben und das mal mehr, mal weniger
vollständig. Von «Mehr» etwa oder vom «Rammlied»... von
«Frühling In Paris» gab es acht Versionen, die komplett
unterschiedlich waren. Wir versuchen dann einfach, die
Version zu nehmen, die am meisten Rammstein entspricht.
Ich persönlich finde die «Liese» auch besser, bin dann
aber schlicht überstimmt worden. Die Anderen nämlich
fanden dieses Cowboy- und Western-Gefühl dieser
Duell-Situation im Text einfach spannender. Ich fand die
«Liese» einfach irgendwie wirklicher. Ich konnte mir
gleich beim ersten Hören des Textes so ein kleines Dorf,
vielleicht in der Schweiz, vorstellen, wo der Bauer da
so losgeht und sich dann so über dieses Mädchen so
hermacht. Solche Entscheidungen treffen wir aber
einfach, indem wir abstimmen, ganz demokratisch.
MF: Etwas weniger demokratisch vielleicht ist ein
anderes Thema. Die Originalversion von «Liebe Ist Für
Alle Da» wurde vor Kurzem vom deutschen Jugendschutz
zensiert und ist nur noch für Erwachsene erhältlich. Die
offiziellen Gründe dafür sind das Lied «Ich Tu Dir Weh»,
in welchem ihr Sadismus und ungeschützten
Geschlechtsverkehr propagieren sollt sowie ein Photo aus
dem Booklet. Wo liegen deiner Meinung die Gründe für
eine solche Einschätzung? Werdet ihr von den Behörden
missverstanden?
CL: Ich muss ehrlich sagen: Ich verstehe das einfach
nicht! Ich versteh nicht, warum gerade dieser Text, weil
ich so viele Dinge sehe in der Welt, die wirklich
schlecht sind und verboten werden müssten. Dieses Lied
gehört für mich aber definitiv nicht dazu. «Ich Tu Dir
Weh» ist in meinen Augen auch nicht falsch zu verstehen.
Wenn man das Lied nämlich genau anhört, dann bemerkt
man, dass es um einen Ritzer geht, der sich selbst
quält, weil er mit sich selbst nicht klar kommt und sich
selbst weh tut, um sich zu fühlen. Es ist also völlig am
Thema vorbei, was diese Leute da entschieden haben.
Deswegen bin ich auch enttäuscht über die Sache, denn
generell find ich's gut, wenn ein Gremium drauf achtet,
dass nichts moralisch/ethisch unvertretbares
veröffentlicht wird. Wenn so ein Lied aber da reinfällt,
dann frage ich mich, warum die sich nicht um die
wirklichen Probleme kümmern. Das macht mir Sorgen.
MF: Seit letzter Woche gibt es in Deutschland nun eine
entschärfte Version von «Liebe Ist Für Alle Da» zu
kaufen, ohne «Ich Tu Dir Weh» und dem umstrittenen Bild.
Was waren die Gründe für diese Entscheidung?
CL: Wir wollen einfach, dass alle, die wollen, eine
Platte von uns kaufen können. Wenn das Lied nicht drauf
sein darf, dann ist es eben nicht drauf. Ich will
einfach, dass unsere Fans in einen Laden gehen und die
neue Rammstein-Platte kaufen können. Deswegen haben wir
uns, auch wenns nicht schön ist, entschlossen, den Song
für die deutsche Version zu streichen. Wir müssen ja
auch nicht bockig wie die Kinder sagen: „Gut, dann eben
nicht, dann verkaufen wir sie halt nicht!“ Damit würden
wir den Jugendlichen, die die Platte kaufen wollen,
keinen Gefallen tun und das wollen wir nicht. Darf der
Song nicht drauf sein, dann ist er eben nicht drauf.
MF: Live spielt ihr die Nummer aber.
CL: Wir dürfen das Lied ja auch in allen anderen Ländern
frei verkaufen. Nur in Deutschland geht das nicht und da
spielen wir ihn halt auch nicht. Das ist nicht lustig
oder so, da kann man ganz grosse Strafen dafür kriegen.
MF: Die Geschichte von Rammstein ist ja immer auch eine
Geschichte der Provokation. Schon früher hat man sich
über euch aufgeregt, wobei das nun zum ersten Mal auch
gesetztlich Folgen hatte. Meine Frage: Gehören Rammstein
und Provokation untrennbar zusammen?
CL: Ja! Wir machen provokante Musik und provokante
Shows, weil wir die Leute erreichen wollen und weil wir
auch die Leute erreichen wollen, die nicht gewillt sind
alles einfach mitzumachen und nur brav in diesem Strom
zu schwimmen. Wir wollen zeigen, dass es auch einen Weg
gibt, seine eigene Sache durchzuziehen - einfach mit
Mut!
MF: Ein Zitat vom englischen Schriftsteller John le Carré zu
diesem Thema, auf welches ich während meinen
Vorbereitungen zu diesem Interview gestossen bin:
«Provozieren heisst, die Menschen denken zu lassen.»
CL: Ja genau. Die Fans von uns werden oft unterschätzt.
Sie sind viel klüger als man denkt. Sie hören sich ein
Lied oft an und verstehen es meistens genau so, wie wir
es eigentlich auch meinen. Irgendwelche Leute
unterstellen unseren Fans dann trotzdem immer, dass sie
zu dumm sind, unsere Musik zu reflektieren. Ich habe aber
die Erfahrung gemacht, dass unsere Fans wirklich klüger
sind, als man denken mag.
MF: Viele Musiker sehen in ihrer Musik einen Weg, sich
selbst zu verwirklichen und das zu machen, was sie
wollen. Siehst du das ähnlich mit Rammstein oder ist es
vielmehr eine Rolle für dich?
CL: Ich mache Musik in Bands seit ich 13 bin. Das ist
mein Weg, mich in der Welt zurecht zu finden und mich zu
äussern. Mir würde auf normalem Wege sonst kein Mensch
zuhören. Mit Rammstein hab ich einen Weg gefunden, mich
geitig und künstlerisch zu verwirklichen, obwohl da
natürlich auch immer Show dazugehört.
MF: Kommen wir zum Schluss noch zur Zukunft dieser
Verwirklichung: Die nächsten Monate seid ihr noch auf
Tour, Festivals sind auch schon einige bestätigt (u.a.
im Juni am «Greenfield Festival» - Anm. d. Verf.) - Was
steht sonst noch so an?
CL: Wir spielen jetzt erst mal so für drei Jahre
Konzerte.
MF: Drei Jahre lang?!
CL: Ja, die nächsten drei Jahre werden wir, mit einigen
kleinen Unterbrechungen, unterwegs sein. Dann werden wir
sehen... Nach so einer langen Tournee werden wir dann
wohl schon wieder Lust haben ins Studio zu gehen. Das
ist das schöne am Musikerleben: Man geht auf Tour bis
man nicht mehr kann, dann geht man wieder für einige
Zeit ins Studio bis das dann wieder ganz öde wird und
dann sagt man: „Ich will unbedingt wieder auf Tour
gehen“. Dann wieder Studio, dann wieder Tour... es ist
ein gut funktionierender Kreislauf...
MF: Seit Jahren kursieren immer wieder Gerüchte, dass
ihr irgendwann mal eine Kollaboration mit der
«Wagner-Stiftung» und den «Bayreuther Festspielen» machen
werdet... Wie sieht es damit aus?
CL: Das ist wahr. Es gab Pläne in diese Richtung.
Spruchreif ist da aber nichts. Wir werden mal schauen,
wie wir solche Sachen in den Zeitplan einbauen können.
Das ist ja oftmals das grösste Hindernis. Interessiert
sind wir an solchen Dingen schon. Aber das mit Wagner
ist richtig. Katharina Wagner (Co-Leiterin der
Bayreuther Festspiele, an welchen ausschliesslich
Wagner-Opern aufgeführt werden - Anm. d. Verf.) hat uns
oft besucht und mit uns gesprochen und wir hatten und
haben auch grosse Lust mit ihr zu arbeiten, haben es
bisher zeitlich aber einfach noch nicht geschafft.
MF: Na gut, dann kommen wir schon zur letzten Frage, die
ich immer stelle...
CL: Das ist gut..., denn ich muss mich, glaube ich, jetzt dann
gleich schon umziehen gehen!
MF:
Wo wirst du und/oder Rammstein in 10 Jahren stehen?
CL: Naja, ich hoffe, wir leben dann alle noch.
MF: Das sieht ja nicht so schlecht aus...
CL: Man kann nie wissen, oder? Das ist eigentlich, das
Einzige, was mich interessiert: Dass ich gesund bin und
lebe.
MF: Das hoffen wir natürlich auch! Flake, ich danke dir
nochmals, dass du dir Zeit für uns genommen hast.
CL: Kein Problem. Viel Spass bei der Show!
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