Basel, Berlin und in München hat es geklappt. Liane
Paasila trifft nun endlich auf Herrn Steven Wilson.
Jenen Steven Wilson, den Ausnahmekünstler, der aus Liebe
zur Musik und zur Kunst an unzähligen herausragenden
Projekten mitwirken konnte. Herr Wilson rebelliert mit
einem fast 1.5 Stunden Album sowie einem hochkarätigen
CD-Buch gegen die Wegwerf-Gesellschaft, ergötzt sich an
der Ästhetik für bildende Kunst und brilliert
musikalisch auf höchstem Niveau, indem er gekonnt und
ungezwungen Jazz, Progressiv Rock, Industrial Rock und
zig weitere Musikstile zu etwas Besonderem verschmelzen
lässt. Es war mir eine ganz grosse Ehre, dieses Interview
führen zu dürfen... (SW = Steven Wilson)
MF: Du hast natürlich schon viele Tourneen hinter dir,
mit Porcupine Tree, Blackfield u.s.w., diese Tour jedoch
ist deine erste Solo-Tour. Was ist für dich daran
anders?
SW: Nun, ich fühle mich grossartig, es ist sehr
aufregend und auf eine gewisse Art und Weise auch
beängstigend. Plötzlich bist du im Mittelpunkt und alles
ist von dir abhängig. Wenn du mit den Bands unterwegs
bist, verteilt sich die Verantwortung auf mehrere
Schultern. Jetzt liegt alles bei mir. Es ist wirklich
harte Arbeit, aber es macht auch sehr viel Spass. Das
Besondere an dieser Tour ist, dass ich damit meine
100%ige musikalische Persönlichkeit ausleben kann.
Da Porcupine Tree sehr erfolgreich wurden und ich damit
meine grössten Erfolge feiern konnte, dachten alle
Leute, das wäre meine Handschrift, meine musikalische
Persönlichkeit, die sich in der Musik widerspiegelt. Aber
das ist nicht so, es ist nur ein Teil davon und wir sind
immerhin 5 Leute in der Band und alle müssen sich einig
sein. Auch wenn ich die Musik komponiere, müssen sie
natürlich einwilligen und das auch spielen wollen.
Dadurch wird auch einiges ausgefiltert und nicht
verwendet. Auf «Grace For Drowning» konnte ich all meine
unterschiedlichen Interessen einfliessen lassen, so wie
es mir gefällt und ich finde was wir mit Prorcupine Tree
im Vergleich machen, ist ganz anders. Porcupine Tree ist
bei Weitem nicht so facettenreich. Was ich hier
präsentiere, hat Elemente aus dem Jazz, Electronic Beats,
Psychedelic Rock, all die 70er Sachen, Progressive Rock,
Industrial Music u.s.w. Das sind all die Musikstile die
ich gerne habe, und die sind hier vereint.
MF: Ich bin sehr gespannt, wie das live umgesetzt werden
kann, da es doch recht komplex und aufwändig produziert
wurde.
SW: Das ist eigentlich ganz einfach zu beantworten. Ich
habe unwahrscheinlich gute Musiker mit an Board. Ohne
die könnte ich das in dieser Form gar nicht umsetzen.
Für sie ist es ganz einfach zu spielen. Zum Beispiel
Marco Minnemann, er ist ein unglaublich guter
Schlagzeuger. Für ihn ist es eine Kleinigkeit diese Art
von Musik zu spielen.
MF: Du bist bekannt dafür, dass du immer sehr gute
Musiker auftreibst, die dich unterstützen. Das hat man
auch schon bei Blackfield oder eben Porcupine Tree
feststellen können. Wie wählst du sie aus?
SW: Ich denke ich bin in der glücklichen Lage, dass
viele sehr gute Musiker Respekt vor meiner Arbeit haben.
Ich verstehe es ehrlich gesagt selbst nicht so genau
warum das so ist, da ich der Meinung bin, dass ich
selbst nicht gerade ein hervorragender Musiker bin. Aber
sie respektieren mein Songwriting und die Produktion
sowie die Vision für Musik die ich habe. Davon möchten
sie ein Teil sein. Bei Frank Zappa und Peter Gabriel war
das ähnlich. Sie hatten auch immer fantastische Musiker
um sich herum. Aber beide hatten etwas Spezielles und
herausragende Musiker wollten immer ein Teil davon sein.
Ich habe viele Kontakte geknüpft über die Jahre und
kenne daher viele Musiker persönlich, einige wurden mir
auch empfohlen und wieder andere waren schon immer auf
meiner Wunschliste. Marco Minnemann war ganz oben auf
der Liste, für mich geht da ein grosser Traum in
Erfüllung mit ihm zusammen arbeiten zu können.
MF: Stammt das Songwriting auf dem Album «Grace For
Drowning» allein aus deiner Feder oder hast du dir
Inspiration oder Unterstützung geholt?
SW: Nun, ja und nein. Ich beginne mit dem Songwriting
und lade mir dann die unterschiedlichen Musiker in mein
Studio ein und erwarte in diesem Zusammenhang Inputs und
Vorschläge. Ich bin zum Beispiel kein Schlagzeuger,
daher gebe ich ihm die Grundidee vor und dieser kippt
dann seine Vorschläge ein. So entstand die Musik. Ich
gebe ihnen nichts vor, was sie dann einfach nachspielen
müssen. Es ist ein Produkt zwischen meinen Ideen und
deren Beiträgen. Live sieht das dann so aus, dass wir
jeden Abend ein anderes Konzert spielen, denn es wird
sehr viel improvisiert. Das finde ich grossartig. Die
Soli hören sich jeden Abend anders an. Weisst du, ich
liebe den Jazz und Jazz ist recht intellektuell, und es
wird eben viel improvisiert. Ich mag das sehr.
MF: Das Album wirkt auf mich sehr kostspielig. Kümmerst
du dich ums Budget bzw. um Kostenpläne oder versuchst du
alles nach deinen Vorstellungen umzusetzen?
SW: Ehrlich gesagt kümmert mich Geld gar nicht. Ich bin
in der glücklichen Position sagen zu können, dass ich
mir darüber keine Gedanken machen muss. Ich habe genug
Platten verkauft. Zudem habe ich mein eigenes Studio und
ich produziere alles selbst und spare mir dadurch die
Kosten für den Produzenten und das Studio. Das sind
Gründe dafür, dass ich sagen kann ich habe den Luxus
mich nicht um Kosten kümmern zu müssen. Das macht mich
sehr unabhängig. Da bezahle ich liebe die Musiker gut,
denn sie haben es verdient. Oder was auch gut
funktioniert ist, dass man sich gegenseitig einen
Gefallen macht. Ich produziere dir dein Album oder du
kannst mein Studio nutzen, dafür spielst du bei mir den
Bass oder was auch immer. Diese Deals funktionieren
sehr, sehr gut. Das Album war nicht ganz billig, da hast
du schon recht, da sind sehr viele namhafte Künstler
vertreten, es ist ein Chor zu hören, es spielt ein
Orchester und auch die ganze Verpackung ist sehr
speziell und entspricht nicht der Norm. Und das war
wirklich sehr teuer. Und ich bin sicher, es gibt
genügend Leute da draussen die denken, wir machen das um
eine enorme Stange Geld daran zu verdienen, aber das ist
bei Weitem nicht der Fall. Das Buch, das du da hast,
(Grace For Drowning - Deluxe Edition 3CD + Blu-ray und
120 Seiten Hardback Book, ca. CHF 100.-) ist extrem teuer
in der Herstellung, limitiert auf 5000 Stück und wir
verkaufen es fast zum Einkaufspreis. Da bleibt wirklich
nicht viel hängen, aber darum geht es mir nicht. Ich bin
extrem stolz auf das Buch und mir geht es dabei um die
Kunst und nicht darum wie viel Gewinn ich daraus
ziehen kann.
MF: Woher stammt die Idee zum Buch?
SW: Eigentlich war das meine Idee. Das ist jetzt das 4.
Buch, das wir in dieser Art heraus gebracht haben. 120
Seiten im Format 28 x 28 cm. Wir haben eines für mein
letztes Solo Album «Insurgentes» kreiert, für das
Porcupine Tree Album «The Incident» und eins zu «Anesthetize».
Wir wollten einfach etwas ganz Besonderes kreieren, mit
Lasse's Bildern, etwas Bonus Material und all dies.
Weisst du, die Leute haben regelrecht ein Desinteresse
am Kauf von CD's entwickelt und sie zeigen diesem Medium
gegenüber einfach keine Wertschätzung mehr. Aber dieses
Buch ist etwas anderes. Das möchten die Leute besitzen
und es ist ein grosser Unterschied, ob man das Buch
inklusive der CD's besitzt oder ob man das Album einfach
nur herunterlädt. Diese Veröffentlichung von "Special
Editions" ist aktuell ein richtiger Trend und es bewegt
Leute dazu, wieder eine Veröffentlichung in Ehren zu
halten. Ich zum Beispiel bin am Ende der Vinyl Ära gross
geworden und ich weiss noch ganz genau, wie speziell es
gewesen ist eine Langspielplatte zu besitzen. Ich finde
die Produktion von solchen künstlerischen und
aussergewöhnlichen Verpackungen ist der einzige und
richtige Weg gegen die Download-Kultur vorzugehen.
MF: Als Journalist bekommt man natürlich die Promo-CDs
oder was zukünftig wohl immer populärer werden wird, ist
der Download, auch für Presse Leute. Wenn mir ein Album
aber sehr gut gefällt, dann möchte ich es in den Händen
halten und auch die Booklets lesen können. Daher kaufe
ich mir die guten Alben alle nochmals selbst.
SW: Nun, das ist eher ungewöhnlich und da gehörst du zu
den grossen Ausnahmen. Ich bin genau so. Aber den
meisten Leuten ist das egal. Wenn man zum Beispiel das
letzte Porcupine Tree Album betrachtet, welches um die
150.000 Mal weltweit verkauft wurde, so um den Dreh. Es
war in jedem Fall ein grosser Erfolg für uns. Wenn du
diese Leute mal fragen würdest wer Steven Wilson ist,
sie hätten keine Ahnung. Sie hörten vielleicht einen
Song im Radio, kauften das Album und haben es auf den
iPod geladen. So, und das wars. Sie gehen nicht tiefer
in die Materie. Aber das ist ja auch irgendwo ok. Ich
verstehe, dass nicht alle Leute auf der Welt diese
Leidenschaft für Musik haben, so wie wir es haben. Aber
Musikliebhaber, die Progressive Rock oder wie man es
immer auch nennen möchte, bevorzugen, neigen eben dazu
mehr Leidenschaft an den Tag zu legen. Sie interessieren
sich für musikalische Qualität, das Artwork und auch für
die Texte zum Beispiel.
MF: Die Presse Leute haben meistens nicht die Zeit, um
so ein qualitativ herausragendes Album wertschätzend
genug zu beurteilen. Wie zufrieden bist du mit den
Reviews bisher?
SW: Oh ja, das ist immer ein Problem. Ich lese so oder so
keine Reviews, ich versuche es zumindest nicht zu tun.
Aber die Reaktionen auf das aktuelle Album sind
phänomenal. Es sind wohl die besten Reaktionen, die ich
je erhalten habe. Wenn man auf amazon.com geht, dann
kann man um die 60 Reviews lesen und ich glaube 57 davon
haben 5 von 5 Punkten bekommen. Das ist unglaublich!
Aber bezüglich der Presse hast du recht. Das ist
problematisch, denn Journalisten tendieren dazu, ein
Album zu beurteilen, nachdem sie es zwei- oder dreimal gehört
haben, und viele Leute haben mit gesagt, dass sie «Grace
For Drowning» mindestens sechs mal anhören mussten, um einen
Zugang zu finden. Nun ja, Journalisten, die die Musik
nicht kennen, werden schnell urteilen und ich kann nichts
dagegen tun. Weisst du, wir leben leider in einer Welt,
wo die Zeit immer knapper wird. Leute haben einfach
keine Zeit mehr. Es ist nicht schön. Wenn man sich
überlegt, dass dieses Album 85 Minuten lang geht und
eigentlich eine grosse musikalische Reise darstellt,
nun, das passt gar nicht zu der Tatsache wie die Welt
aktuell funktioniert. Es ist alles so schnelllebig und
oberflächlich. Für mich ist das Album eine Demonstration
gegen all dies. Du verstehst das und all die Leute die
heute Abend kommen, verstehen das auch. Ich denke, ich
habe meine kleine Welt gefunden wo Leute genau das
verstehen und wertschätzen.
MF: Ich muss sagen, ich empfinde dich und deine Musik wie
eine Art Buch, das niemals enden mag. Das fasziniert
mich sehr. Ich finde immer wieder neue Facetten und es
gibt so viel zu entdecken. Du warst ein Teil von
unglaublich vielen Produktionen und dies gibt mir das
Gefühl, dass du niemals ruhen kannst. Hattest du dich
denn überhaupt mal danach gesehnt? Nach einer Auszeit
zum Beispiel? Oder etwas anderes machen?
SW: Nun ja, ich würde gerne mal in der Filmbranche Fuss
fassen. Mit einem guten Freund zusammen habe ich ein
Film Skript geschrieben, aber leider konnten wir es bis
jetzt noch nicht wirklich umsetzen. Ich interessiere
mich für den Film genauso sehr wie für die Musik und
mein grosser Traum ist es mit einem Regisseur zusammen
zu arbeiten und ich würde die Musik liefern. Das wäre
zwar auch wieder ein Musik Thema aber es ist ja eine
ganz andere Welt mit bewegten Bildern zu arbeiten. Was
das Auszeit-Thema angeht, so haben wohl alle Leute den
Eindruck ich sei ein Workaholic und arbeite 24 Stunden
am Tag und gönne mir keine Pause. Nun sie haben damit
nicht unrecht, jedoch ist das für mich kein Stress, da
es mir Spass bereitet und ich darin aufgehe. Es ist für
mich keine Arbeit. Es ist eine Bereicherung mit all
diesen Leuten zusammen zu spielen, diese Show heute zu
spielen, all das macht Spass und ist für mich nicht mit
harter Arbeit gleich zu setzen. Mit Jethro Tull oder
Robert Fripp (King Crimson) musizieren zu können, ist ein
Traum, der in Erfüllung gegangen ist, das ist nicht
Arbeit. Eine Auszeit von all dem zu nehmen, würde für
mich keinen Sinn machen. Es bereitet mir unendlich viel
Freude und gibt mir Energie.
MF: Ich möchte das Thema "bewegte Bilder" aufgreifen und
auf Lasse Hoile zu sprechen kommen, der für die visuelle
Umsetzung und die Projektionen bei den aktuellen Solo
Konzerten zuständig ist. Ich schätze ihn sehr. Er hat ja
auch für Porcupine Tree viele Dinge gemacht. Wie bist du
auf ihn aufmerksam geworden?
SW: Nun wenn du dich etabliert hast und ein wenig
bekannt geworden bist, reichen dir viele Künstler
Arbeiten ein. Viele Maler oder Fotografen schicken dir
ihre Arbeiten und fragen nach einer Zusammenarbeit und
Lasse war begeistert von Porcupine Tree und hat mir
Bilder geschickt und ich war total angetan. Es war für
mich wie das visuelle Pendant zu meiner musikalischen
Arbeit. Und es war für mich als würde ich die Bilder die
ich im Kopf hatte als ich die Musik geschrieben habe,
endlich in Wirklichkeit vor mir sehen. Wir haben uns
kennen gelernt und sofort einen starken Draht zueinander
gehabt. Wir mögen auch die gleichen Filme, keine
kommerziellen Hollywood Filme, wir lieben beide
Euro-päische Filme. Wir mögen beide die Fotografie und
das Düstere, das hat perfekt gepasst. Seine Bilder und
meine Musik passen wie ein Puzzle zusammen. Wenn ich
Musik schreibe dann spiele ich diese erst Lasse vor und
er kreiert die Bilder dazu und von 9 in 10 Fällen trifft
er genau das was ich im Kopf hatte. Das ist eine
Verbindung die es sehr sehr selten gibt. So etwas habe
ich mit einem Musiker noch nie erlebt. Ich kann
Lasse 100% vertrauen.
MF: Zurück zur Musik, ich habe versucht eine Aufstellung
mit all deinen Arbeiten zusammen zu bekommen, und ich
habe das Gefühl, es ist fast unmöglich!
SW: Oh, viel Glück dabei (lacht) - Es gibt jemanden aus
Deutschland, Uwe Häberle, der hat alles aufgelistet und
diese Liste umfasst fast 400 Seiten. Da ist dann alles
drauf. Jede Kompilation, alles was bisher erschienen
ist. Das ist wirklich ein Wahnsinns-Job, den er da
geleistet hat. Du kannst es im Internet unter
http://www.voyage-pt.de/swdisco.html herunterladen. Dann
kannst du dir die Arbeit sparen (lacht).
MF: Na, da bin ich ja froh drum. Steven, eine letzte
Frage. Du hast ein aktuelles Projekt am Start mit Mikael
Akerfeld von Opeth. Wie ist der Stand bei «Storm
Corrosion»?
SW: Das Album ist fertig und es kommt wohl im Frühjahr
2012 heraus. Wie soll ich es beschreiben? Nun ja, wenn
du mein Solo Album «Grace For Drowning» und das aktuelle
Album «Heritage» von Opeth kennst, dann ist das Album
von «Storm Corrosin» so etwas wie das fehlende Teil im
Puzzle zu einer Trilogie. Es ist recht düster, sehr
schön, wahrscheinlich mehr orchestral wie die anderen
beiden Alben. Wir singen beide auf dem Album und es
nicht gerade heavy, es hat wenig Schlagzeug. Es ist eher
melancholisch, wirklich sehr hübsch. Es gibt nur 6
Lieder und die Titel sind sehr lang, sehr experimental.
Wenn ich zurückschaue und meine Arbeiten betrachte dann
würde ich sagen, dass das bisher die wichtigsten Alben
in meiner Karriere gewesen sind. Leider
ist es eher unwahrscheinlich das Material
von «Storm Corrosion» live vorzustellen, da Mike mit
Opeth unterwegs sein wird und zudem das Material so
extrem komplex ist, dass es schlichtweg nicht möglich
ist, dies live darstellen zu können. Wir werden wohl ein
paar Presse-Termine zusammen wahrnehmen, aber das mit
live Auftritten wird wohl eher schwierig werden.
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