Das letzte Dream
Theater-Konzert in Zürich war eine zwiespältige Angelegenheit. Und auch
ein paar Tage später schwanke ich noch zwischen Freudentränen und
Skepsis. Soll ich das Gebotene nun in den Himmel loben oder
verurteilen? Beide Wege würden dem grossen Werk nicht gerecht werden,
welches Dream Theater mit dem neuen Doppel-Konzept-Album «The
Astonishing» aufgeführt haben. Versuchen wir also zu differenzieren.
Vorgeschichte
Unser lieber Rockslave durfte zu
meinen Erstaunen das neue Dream Theater-Doppel-Album „The Astonishing“
nicht nur bewerten, sondern schlachtete es mit mageren sechs Punkten
regelrecht ab. Und das bei einer Band, welche seit «Metropolis Part II»
(1999) meiner Meinung nach ausschliesslich 10 Punkte-Alben
veröffentlicht hat. Abzüglich des eher schwachen Debüts von 1989 und
der EP «Change Of Season» und dem 1997er Album «Falling Into Infinity»
komme ich auf zehn Klassiker, was bei mir noch keine Band vorher
geschafft hat. Und nun die 6 Punkte von Rockslave! Eine eigene Meinung
musste her, denn Dream Theater musizieren für mich seit jeher wie ein
offenes Buch, welches ich von der ersten Minute an lesen kann. Ausser
beim neusten Werk! Denn nach dem ersten Reinhören musste ich unserem
Slave teilweise Recht geben. «The Astonishing» ist schwierig und braucht
viel Zeit, sich zu entwickeln. Nach kämpferischen zehn bis fünfzehn
Hördurchgängen fing ich allmählich an zu begreifen. Bei jeder anderen
Band hätte ich längst aufgegeben, nicht aber so bei Dream Theater. Umso
gespannter war ich deshalb auf die Live-Umsetzung. Dream Theater
kündeten an, «The Astonishing» in voller zweieinhalbstündiger Länge aufzuführen.
Ich hoffte, durch das Konzert noch besser ins Werk rein zu wachsen. Das
Ergebnis war wie gesagt zwiespältig.
Konzert
Für die Umsetzung von «The Astonishing» hatten Dream Theater nur
spezielle Orte ausgesucht. In Zürich war es das Kongresshaus, welches
bestuhlt wurde. Hier bewiesen Dream Theater eine progressive Ader,
welche ich bei den Prog Metallern seit einiger Zeit ein wenig
vermisste. Im speziellen, unmetallischen Ambiente nahmen also die
Zuschauer Platz und warteten gespannt auf die Aufführung. Beim Eingang
wurde einem ein Programmheft in die Hände gedrückt, welches das
Konzeptwerk in kurzen Worten zusammenfasste. Das Fotografieren und
Filmen per Handy wurde dem Publikum strikte untersagt, und das
Einhalten kontrolliert und sofort abgemahnt. Nichts sollte den puren
Genuss der Musik und der grosszügig inszenierten Videosequenzen stören.
Das war einerseits löblich, aber halt nicht so richtig Rock’n’Roll und
schon fast schulmeisterlich. Das Konzept erforderte allerdings auch
höchste Aufmerksamkeit, wollte man nichts Wichtiges verpassen. Dank
geschickt gereihter Sitze war die Sicht auf die Bühne optimal. Dream
Theater legten um 20.05 Uhr pünktlich los und liessen die Zuhörer in
ihre Geschichte eintauchen. Die Musiker spielten motiviert, aber
gewohnt konzentriert und ohne grosse Interaktion mit dem Publikum. Das
Album «The Astonishing» wechselt geschickt immer wieder zwischen laut und
leise, so dass sich die Ohren nach wuchtigen Sequenzen jeweils erholen
konnten. Wirklich hörbare Stimmung kam im Publikum nach längeren
Kapiteln und am Ende des ersten Teils und des zweiten Teils auf. Fast
schon euphorisch waren die Reaktionen auf das Gitarrensolo von
Gitarrist John Petrucci am Ende von Part eins. Die Musik war erhaben
und wurde im selben Stil filmisch umgesetzt. Teilweise wurde es aber
etwas zu kitschig und der Pathos auf die Spitze getrieben. Zum Glück
verzichteten Dream Theater auf eine patriotische USA-Flagge. Diese
hätte mit der Geschichte aber auch gar nichts zu tun gehabt. Vielmehr
setzten die Amerikaner auf Vollmondbilder, comicartige Figuren und
gezeichnetes Feuer.
Dass «The Astonishing» in der Tat ein schwieriges Album ist, war auch an diesem
Abend zu spüren. So wurde es mir im ersten Teil spätestens im zweiten
Drittel etwas zu langatmig. Die Geschichte wollte irgendwie nicht
vorwärts kommen, zumal die gezeigten Videosequenzen zwar stimmig waren,
die Geschichte aber nur teilweise besser erklärten als nur auf Tonträger.
So verpasste ich im zweiten Teil die Revolution komplett, welche
zwischen dem Schwertkampf und der Siegeshymne stattgefunden haben soll.
Wie ein Konzeptalbum besser funktioniert, haben Dream Theater bereits
selber bewiesen, denn das Konzeptwerk «Metropolis Part II» und die
beiden überlangen Lieder «Six Degrees Of Inner Turbulence? und «In The
Presence Of Enemies» bieten in kürzerer Spielzeit mehr Epik, Gefühle,
Abwechslung und grosse Refrains, als es Dream Theater auf
«The Asthonishing» auch nur annähernd zu Stande bringen.
Der grosse Schlussapplaus nach zweieinhalb Stunden Spielzeit und einer
viertelstündigen Pause war trotzdem mehr als verdient. Dream Theater
hatten Mut bewiesen und eine opulente Show in ungewohntem Ambiente
präsentiert. Differenzierte Kritik war nach dem Konzert zwar zu hören,
doch die meisten der Zuhörer wirkten positiv erschlagen. Und dass ich
in der Nacht darauf von verschiedenen Melodien träumte und diese auch
am Morgen noch in meinem Kopf herum schwirrten, zeugt ebenfalls von
grosser Qualität. Vielleicht sollte ich mir «The Asthonishing» nochmals
zwanzig bis dreissig Mal anhören. Unter dem Strich war das Konzert auf jeden Fall
verwirrend, grossartig und zwiespältig zugleich.
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