«Catalogue/Preserve/Amass» - das
Live-Album der letzten Tour aus dem Jahre 2012, bei der Steven Wilson
sein zweites Solo-Album «Grace For Drowning» vorgestellt hatte, höre
ich mir an und lasse den Konzert Abend im Volkshaus Zürich Revue
passieren. Herr Wilson ist im Prog-Olymp angekommen und feiert
gleichzeitig mit seinem dritten und aktuellen Solo-Werk «The Raven
That Refused To Sing (And Other Stories)» Erfolge, mit denen er
vielleicht gar nicht gerechnet hat. Wenn man bedenkt, wie lange er
schon eigene Musik komponiert, musste er vielleicht länger daran
arbeiten, um seine Brötchen zu verdienen als andere.
Bereits mit elf Jahren kreierte er eigene Musikstücke und
experimentierte in seinem Kinderzimmer mit Instrumenten, die sein Vater
für ihn baute. Der Sequencer von damals kommt heute noch auf seinen
Veröffentlichungen zum Einsatz. Sein Vater war es auch, der dem
Eigenbrötler bereits in jungen Jahren hochkarätige Sounds wie die von
Pink Floyd nahe brachte. In der Mitte des Lebens angekommen, ziert sein
Gesicht nun alle namhaften Cover der Musikzeitschriften Europas. Ebenso
tummelt er sich an den Chartspitzen und das mit Musik, die auf höchstem
Niveau brilliert! Triumph mit recht langem Anlauf. Es wäre schön, wenn
der Meister des Progressive Rock zum Umdenken anregt. Die kommerzielle
und konsumverwöhnte Dieter Bohlen Gesellschaft, mit der er nun
gezwungenermassen im Chartgewitter konkurrieren muss, wird vielleicht
dazu animiert, auch mal wirklich hochwertige Musik schätzen und
geniessen zu lernen. Die ersten schunkelnden Pärchen im Klammergriff
wurden bereits gesichtet. Es lässt sich darüber streiten, ob das ein
gutes Zeichen ist...
Steven Wilson & Band
Tatsächlich hat Herr Wilson neues Publikum dazu gewonnen. Gewohnt ist
man, dass 99.9% männliche Zuschauer den Raum füllen, darunter viele
Musiker mit hohem Anspruch versteht sich. Dass bereits vor Konzertende
die Girlie-Shirts schon ausverkauft waren, scheint der Beweis dafür zu
sein, dass nun auch mehr und mehr weibliche Zuschauer den Zugang zu der
hoch anspruchsvollen Musik finden. Ein grosser Beitrag dazu liefert
bestimmt auch das neue Album «The Raven That Refused To Sing (And Other
Stories)» das meiner Meinung nach viel zugänglicher ausgefallen ist als
das, was Herr Wilson sonst so aus der Hüfte schiesst (Blackfield nicht
berücksichtigt). So zugänglich, dass man sich erst mal daran gewöhnen
muss. Aber auch das sollte nichts Neues für Musikfreaks sein, die den
Engländer und seine Kunst über Jahre hinweg bereits verfolgen: Herr
Wilson hat eine Abneigung gegen alles Gradlinige und langweilt sich
schnell. Somit hält er auch sein Publikum immer bei Laune und
überrascht mit grossartigen Live-Auftritten, die durch Artwork von
Lasse Hoile und Haio Mueller untermalt werden.
Auch an diesem Abend war der Vorhang, auf den bewegte Bilder projiziert
wurden, integraler Teil dieser
Vorführung. Die hochkarätige Bandbesetzung, die keinen Lückenbüsser
zulässt, überzeugte ein weiteres Mal bei diesem Auftritt und nahm einem
den Atem. Da wurden Emotionen frei gesetzt, die viele Zuschauer im
gestandenen Alter nur aus der Jugendzeit her kannten. Euphorisch wurde
gejubelt und geklatscht. Zu recht, denn egal an welcher Stelle man sich
im Volkshaus aufhielt, man war besorgt darum, ein aussergewöhnliches
Klangerlebnis zu initiieren. Umgesetzt wurde dies durch das Verteilen
von unzähligen Lautsprechern in der ganzen Venue und selbstverständlich
auch auf der Empore. Dies führte zu einem Sound Erlebnis der besonderen
Art und immer wieder sah man Leute die sich „erschrocken“ umdrehten, um
zu schauen, von wo das Ticken der Uhr denn nun her gekommen ist («The
Watchmaker»). Surround Sound at its best! Für Abwechslung sorgte aber
auch der Herr Direktor selbst und wechselte zwischen seinem
omnipräsenten „antiken Schreibtisch“, welcher als Midi-Keyboard
umfunktioniert wurde, seinen Gitarren und neuerdings auch dem Bass.
Dabei zappelte er immer wieder hin und her, als hinge er an einem
Strommast.
Nick Beggs die Show zu stehlen, wird aber auch einem Herrn Wilson nicht
gelingen! Nick Beggs ist einer der auffälligsten Bassisten, die ich je
erlebt habe und dass er auch noch den Chapmanstick gekonnt mit
einbringt, macht ihn um so interessanter und facettenreicher. Ohne
Zweifel, auch der Rest der Truppe trug genau so zum Gelingen der Show
bei: Marco Minemann (drums) Theo Travis (flutes, saxophones), Adam
Holzmann (keyboards) und Gutherie Govan (lead guitar). Wenn ich mir
einen Kritikpunkt aus der Nase ziehen müsste, dann wäre das, dass für
mich der ganze Auftritt von den alten Songs lebte und mich besonders
der Anteil aus dem Album «Grace For Drowning» am meisten begeisterte.
Ein Song wie «Raider II» der in der Regel knapp 25 Minuten einnimmt und
keine Sekunde lang langweilt oder «Index», bei dem Steven Wilson
offensichtlich seine Leidenschaft für das Sammeln von Dingen
verarbeitet, überraschen mich fortwährend und fordern mich durch die
komplexe Songstruktur immer wieder aufs Neue heraus. Grossartiger
Konzertabend in einem wunderschönen Ambiente, welcher ganz lange in
Erinnerung bleiben wird. Die volle Konzentration galt dem Künstler
selbst, denn anstelle eines Support-Acts wurden als Intro und Outro
Songs seiner Nebenprojekte gespielt und von Projektionen untermalt.
Fazit: Steven Wilson hat wie gewohnt eindrücklich bewiesen, dass der
Hype, der im Augenblick um ihn gemacht wird, durchaus gerechtfertigt
ist.
Man darf gespannt sein, ob das nächste Album das noch zu toppen
vermag, denn diese Tour war schon eine Klasse für sich!
Setliste: «Raven Artwork Video, inkl. Bass Communion Song» - «Luminol»
- «Drive» - «Home» - «The Pin» - «Drop» - «Postcard» - «The Holy
Drinker» - «Deform To Form A Star» - «Watchmaker» - «Index» -
«Insurgentes» - «Harmony» - «Korine» - «No Part Of Me» - «Raider II» -
«The Raven That Refused To Sing» - «Radioactive Toy» - «Ljudet Innan» --
«(Storm Corrosion Song)».
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